Ist die Sozialdemokratie mit ihrem
                          
Latein am Ende?
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Die Sozialdemokratie hat es sich seit ihrer Entstehung im vorigen Jahrhundert zum Ziel gesetzt, das menschliche Dasein für alle, auch die Allerschwächsten in der Gesellschaft lebenswert zu gestalten. Sie versuchte die Werte der Aufklärung auf alle sozialen Schichten auszudehnen. Doch nicht nur der Kampf um einen gerechten Anteil am gesellschaftlichen Reichtum, also materielle Aspekte, sondern gleichzeitig auch immaterielle Werte wie mehr politische Mitbestimmung, allgemeiner Zugang zu Bildung, Kultur und mehr Freizeit konnten erst auf Druck der Sozialdemokratie verwirklicht werden. Ihr ist es zu verdanken, daß die Forderung nach mehr Gerechtigkeit, Freiheit und Chancengleichheit zumindest teilweise realisiert werden konnte.                        

Das ursprüngliche, von Marx beeinflußte Vorhaben der Überwindung der kapitalistischen Strukturen gelang allerdings nicht. Im Gegenteil: Jene Kräfte der Arbeiterbewegung, die versucht haben, den Kapitalismus durch Diktatur und Kommandowirtschaft zu überwinden, sind kläglich gescheitert. Von diesen Bewegungen wurde auf infamste Weise eine Zerstörung der marxschen Gedankenwelt betrieben. Dies hat dazu geführt, daß die Sozialdemokratie nunmehr einer völligen Überwindung des Kapitalismus grundsätzlich ablehnend gegenübersteht. Jegliche Form von Ideologie gilt heute als verwerflich. Pragmatismus und Anpassung sind die obersten Maximen. Gewiß muß Politik in jeder demokratischen Gesellschaft nach ihnen ausgerichtet werden, doch die ausschließliche Fokussierung darauf führt zur Erstarrung.                    

Nach Jahrzehnten neoliberaler Politik, die zur Deregulierung nahezu aller Bereiche führte und in der Gesellschaft eine zunehmende Kälte und Unsicherheit verbreitete, wurde in den meisten Ländern Europas sozialdemokratischen Bewegungen das Vertrauen der Regierungsverantwortung geschenkt. Doch nicht eine Umkehr, sondern vielmehr Anpassung an die Politik ihrer neoliberalen Vorgänger hat mittlerweile viele Enttäuschte hinterlassen. Mehr noch: Die Sozialdemokratie ist heute in zwei Flügel gespalten: jenen, der einen eher gemäßigt keynesianischen Weg beschreiten will, und einen, der das neoliberale Gedankengut unter dem Deckmäntelchen Modernisierung neu aufbereiten möchte. Der tiefgreifende Wandel in der ideologischen Ausrichtung ist Resultat der zunehmenden Globalisierung der Weltökonomie. Hier werden sämtliche Bereiche des menschlichen Lebens den Marktmechanismen unterworfen, auch jene, die sich dafür gar nicht eignen. Die Diskussion innerhalb der Sozialdemokratie ist nichts anderes als ein Kampf gegen die Windmühlen. Anhänger der Auffassungen von Lafontaine und Jospin stehen jenen von Blair und Schröder gegenüber. Doch wieso ist vom Kampf gegen die Windmühlen die Rede? Schon der verarmte Adelige Don Quijote erkannte nicht, daß das Zeitalter des Rittertums im Untergang begriffen war. Dieser definierte sich vor allem durch Kampf und Ehre, die kapitalistische Gesellschaft in erster Linie durch die Arbeit, konkreter die Lohnarbeit. Lohnarbeit stellt ein Verhältnis in Form von Kontrakten zwischen den Individuen der Bereiche Arbeit und Kapital dar. Lohnarbeit wird primär als negative Form der Arbeit verstanden, die jedoch durch die Bündelung der gesellschaftlichen Kräfte und der Neuorganisation der Arbeit in Form der Arbeitsteilung massiv zu einer Steigerung des materiellen Reichtums beigetragen hat. Die Sozialdemokratie steht noch immer im Denken der industriellen Gesellschaft, ohne zu bemerken, daß sich gerade in Europa der Übergang zu einer neuen nachindustriellen Epoche vollzieht, in der auch der Zugang zu Fragen wie Arbeitsplatzschaffung, Einkommen etc. ganz anders betrachtet werden muß.                       

Schon die frühen Denker der modernen Arbeiterbewegung erkannten diese Gesichtspunkte. Gerade Marx ging es aber um eine Überwindung der kapitalistischen Strukturen, sprich Lohnarbeit. Den entscheidenden Faktor erkannte er im Widerspruch zwischen den Produktivkräften (dem ökonomischen und technologischen Potential) und den Produktionsverhältnissen (Rechts- und Eigentumsverhältnisse sowie staatliche Ordnung). Dadurch kommt es laut Marx zu einer Veränderung der ökonomischen Basis, in deren Folge die ganze Gesellschaft umgewälzt werden muß. Letzterer bleibt bei der Analyse stehen und sinniert nicht über die konkrete Politik oder Handlungsanleitungen. Jegliche Behauptungen, die marxsche Gedankenwelt hätte falsche Lösungsvorschläge gegeben, müssen zurückgewiesen werden, da Marx in erster Linie Wissenschaftler und somit Analytiker, aber nicht Politiker gewesen ist.                                   

Doch die marxschen Gedanken hatten ihre Wirkung auf die frühe Politik der Arbeiterbewegung, betreffend der Überwindung der Eigentumsverhältnisse. Genau hier setzte die sozialdemokratische Betrachtungsweise an. Die primäre Konzentration auf Fragen der Eigentumsverhältnisse und ihre Überwindung in verschiedensten Formen wie etwa Verstaatlichung, Vergesellschaftung, Selbstverwaltung, Kommunalisierung etc. standen im Mittelpunkt. Dies heißt keineswegs, daß andere Bereiche der politischen Ökonomie ausgeklammert wurden, doch den Ausgangspunkt stellten primär die Besitzverhältnisse dar. Die ursprüngliche Umgestaltung dieser ist heute jener der völligen Legitimierung der Akkumulation des Privateigentums in den Händen einiger weniger gewichen.                       

Die primäre Fokussierung der Betrachtungen auf die Besitzverhältnisse hat regelrechte „blinde Flecken“ entstehen lassen, die in diesem Buch vor allem im letzten Drittel beschrieben werden und jenseits aller gängigen Fragestellungen liegen. Die „blinden Flecken“ verstehen sich als jene Bereiche, die kein Gegenstand der Betrachtungen sind. Vielmehr gelten diese Fragen als nicht existent. Doch genau hier könnten wahrscheinlich eher Antworten auf viele drängende Probleme gefunden werden. Warum sollten diese „blinden Flecken“ gerade von der Sozialdemokratie gelichtet werden?

Die "blinden Flecken" der Sozialdemokratie

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