Die Unschuld am Morgen Bestellen? Zurück Home

In weitem Umkreis um den Bungalow lagen, akkurat verteilt, allerlei Eisentrümmer herum; Zahnräder, Pleuelstangen, Autoskelette und Generatorenbestandteile, ein rostiger Blechsalat, ein unguter Kontrast zur Insellandschaft. Dazwischen hockten Kaninchen, pickten Hühner und grasten Schafe. So war der Ausblick aus meinem Zimmer. Über den kahlen grünen Hügel, der vom Loch aufstieg und die Form einen Stiernackens hatte, senkten sich rußfarbene Nebelwolken; gegen die Fensterscheiben prasselte der Regen. In tiefen Rinnen rauschten angeschwollene Bäche von den düsterverhüllten Gipfeln.

Nur einen kurzen Orientierungsausgang hatte ich unternommen, bis zum Schulhaus. Da es weder ein Pub, noch ein Shop auf der Insel gab, war in der Schule eine Verkaufsnische eingerichtet. Doch nicht etwa eiserner Proviant, die wichtigsten Überlebensmittel wurden dort gehortet für den Notfall, sondern Coca Cola und Chips, sonst nichts. Man wundert sich immer an außergewöhnlichen Orten, aber meist anders als man’s erwartet, das ist ja das Außergewöhnliche.

Überhaupt lebten die Insulaner, die sich als Kleinbauern, Fischer, Schafzüchter und mit der Wollverarbeitung über Wasser hielten, nicht nur geographisch verstreut; es gab kein Zentrum außer der alleinstehenden Schule, und Ankunft und Abfahrt den Postbootes, zweimal pro Woche, blieb die einzige hektische Zusammenkunft. Jeder harrte für sich aus auf dem Brocken im Atlantik, rechte Insel-Charaktere.

Einen engen Anschluß an die Gastgeber-Familie vermied ich, mein Zimmer verließ ich nur zum (späten) Frühstück und zum (frühen) Abendessen, der Hauptmahlzeit. Ohnehin herrschte eine Atmosphäre der Betriebsamkeit, ein Kommen und Gehen und Lärmen der Kinder, Schwiegerkinder und Kindeskinder, und das Wohnzimmer hielten Hund und Katz besetzt, gelegentlich stakste auch noch ein Schaf herein. Für tagsüber teilte ich meinen mitgebrachten Proviant, einen Würfel Cheddar-Käse, Trockenbrot, Traubenzucker, eine Dose Sardinen, Kekse und Äpfel, in Tagesrationen. Wohlweislich hatte ich auch Karl May eingepackt.

Der Rußnebel trieb bis zum Alteisenlagerplatz vor dem Haus, sickerte ins Gemüt. Tag und Nacht prasselte der Regen herab. Der in allen Tonarten heulende Wind zerrte an den Nerven. Jede Nacht schreckte ich zur selben Uhrzeit auf: Was, wenn ich nicht so bald wegkam? Wie lange würde mein Geld reichen? Mein Herz galoppierte, als ob ich mich noch immer in Seenot befände. Wieviele Tage schon hatte ich keinen blauen Himmel gesehen, keine weißen Wolken? Von der Sonne ganz zu schweigen. Im Karl-May-Roman kam ein Häuschen vor, ein Versteck in einer Oase, inmitten der Wüste, eine Laube, ganz von Passionsblumensträuchern überwachsen; den Extrakt dieses Gewächses hätte ich jetzt brauchen können, ein altes Indianerelixier – gegen die Herzangst.

Als Karl May die realen Stätten seiner Phantasie-Abenteuerromane aufsuchte, erlitt er einen Nervenzusammenbruch. Das weist ihn als Dichter aus.

Im Bungalow wohnte ein zweiter Gast, der sich seit Wochen schon einquartiert hatte, ein polternder Mensch, der sich ungeniert wie ein Hausfreund benahm, ein holländischer Vogelbeobachter. Sobald die Sturmböen ein wenig nachließen, zog er los und durchstreifte die Insel. Die aggressiven Raubmöwen, die Skuas, waren seine speziellen Freunde. Sie brüteten gerade und attackierten einen, sobald man sich auf freiem Gelände befand. Der Holländer sammelte Notizen für ein Buch über die Raubmöwen, die er mit dem Kosenamen „Bonxies“ nannte. Deshalb störte er ihre Nestruhe. Und erzählte begeistert von den Sturzflug-Attacken, von allen Seiten gegen seinen Kopf, von der Druckwelle, die er spürte, wenn die Vögel knapp davor hochzogen. Es hörte sich ganz nach einem Liebesverhältnis an. Geradezu erregt war er, nachdem ihn ein seine Brut verteidigender Bonxie mit dem Flügel berührt (geschlagen) hatte: erstmals nach sieben Jahren! Der erste Kontakt! – Als er mit blutenden Handrücken zum Dinner erschien, wehrte der Haus und Vogelfreund, laut lachend, aber sichtlich geschmeichelt, ab, nein, nein, nicht die Skuas, die arktischen Seeschwalben hätten ihn gepickt. Wahrscheinlich plagten ihn arge Vogelträume, denn nachts hallte der Angriffsschrei der Raubmöwen durch den verlotterten Bungalow – und der Lockruf des Kiebitzes antwortete …

Die kurzen Phasen, wenn sich die Außenwelt-Situation etwas aufhellte, nützte ich für Ausflüge. Deshalb kannte ich die kreischend über dem Kopf schwirrenden, pfeifend zustoßenden Seeschwalben genauso wie die Kamikaze-Sturzflüge der Skuas oder ihre listigen Manöver, von der Brut abzulenken; dabei flatterte, scheinbar hilflos, ein paar Meter vor dem Gehenden einer dieser großen kräftigen dunkelbraunen Vögel auf dem Boden und simulierte einen gebrochenen Flügel oder ein gebrochenes Bein. Auch die Shags (Krähenscharben) lernte ich kennen, eine kleine Abart des Kormorans, die in Familien auf den Riffen siedelten; wie sie, eine Wappenvogel-Silhouette, aufrecht stehend, ihre Flügel spreiteten, um sie im Wind zu trocknen. Dem Sterntaucher begegnete ich und dem Austernfischer, dem Goldregenpfeifer und den Papageientauchern (Puffins), den Clowns der Vogelwelt; zahlreiche Vogelarten nisteten auf den Heide und Moorebenen oder in den Felswänden.

Sogar den Vogelbeobachter beobachtete ich ein paarmal: wie er in der nebligen Landschaft stand, am Rande eines Lochs, den Kopf im Nacken, reglos wie ein Marterpfahl, und ein Schwarm Eissturmvögel flatterte um seinen Kopf; oder er lag auf dem Boden, mitten im Brutgebiet (die ganze Insel ist ein einziges Vogelnest), einen Fotoapparat vor dem Gesicht, während aus der vom Wind zerzausten Vogelwolke über ihm einzelne seiner zornigen Freunde ihre Scheinangriffe vortrugen. Und einmal sah ich ihn in der Hocke dahinhopsen, offenbar in Nachahmung der Mimikry der Bonxies ein gebrochenes Glied simulierend.



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