1. Lügen im "Wahrheitsgewand"
"Muß das sein ...?" - fragte ich vor nunmehr 61 Jahren meine Mutter, nachdem ich kurz davor das stark gedämpfte Licht eines Budapester Sanatoriums und das der Welt erblickte.
Geneigte Leser! Ich bin froh, daß Sie diese Zeilen nur lesen und mich dabei nicht sehen. Sie würden es nämlich sofort bemerken, daß ich nicht die "Wahrheit" - was diese immer auch sein mag - sage, sondern lüge: Ich schwitze, meine Pupillen verkleinern sich, ich sitze unruhig an meinem Schreibtisch und blicke nervös in jede Himmels- und Höllenrichtung, nur nicht dorthin, wo ich Sie vermute.
Eigentlich könnte ich jetzt bereits dieses Buch beenden, da ich die wichtigsten Merkmale eines (männlichen) Lügners zusammenfaßte. - Ich höre aber doch nicht zu schreiben auf; und Sie hoffentlich nicht zu lesen. Das aus mehreren Gründen: Mein Verleger, Dr. Walter Weiss, wäre mit solch einem dünnen Manuskript genauso wenig zufrieden, wie meine männlichen Schicksals- und Geschlechtsgenossen, die hartnäckig behaupten, daß nicht nur sie, sondern auch Frauen lügen. Und außerdem wäre meine geliebte Frau Helga, die es gewohnt ist, unsere Wochenenden stets zu dritt - sie, ich und meine Schreibmaschine - zu verbringen, außerordentlich, wenn auch angenehm überrascht, plötzlich an einem freien Samstag und Sonntag allein mit mir zu sein. Leider muß ich meine Frau, die, wenn auch nur diesbezüglich, Kummer gewohnt ist, enttäuschen: Ich höre mit dem Schreiben an diesem "Lügen"-Buch nicht auf. Ganz im Gegenteil: Jetzt beginne ich erst damit.
Seit Menschengedenken (und nicht: seit Menschen denken) haben wir - meine sozialwissenschaftlichen Zunftgenossinnen und -genossen - das vielschichtige und vielgeschmähte Thema "Lüge" den Theologen, den Politikern und, bestenfalls, den Literaten überlassen. Vor allem die ersteren, die sich nicht immer als passagierfreundliches Bodenpersonal Gottes erweisen, haben die Lüge stets und vehement verdammt; das vor allem dann, wenn es sich nicht um die eigenen "Lügen im Wahrheitsgewand" handelt.
Die Theologen führen uns in die Schlacht gegen die Lüge mit dem 8. Gebot: "Du sollst nicht falsch gegen einen anderen aussagen" (nach Exodus 20, 2-17). Bereits dieses Verbots-Gebot zeigt die Zwiespältigkeit unserer leicht relativierbaren Einstellung zur Lüge. Ursprünglich, wie übrigens auch die stets mißverstandene Aufforderung des Aug um Aug, Zahn um Zahn, die weder mit einer alttestamentarischen Rache noch mit der Warentausch-Honorierung urzeitlicher Augen- und Zahnärzte zu tun hat, betraf das 8. Gebot immer nur die biblische Gerichtsbarkeit. Es ist nichts anderes als das heute noch existierende Lügen-Verbot der Zeugen vor dem Hohen und vor jedem anderen Gericht.
Ohne sonderliche Spitzfindigkeit könnten wir relativ leicht das 8. Gebot ad absurdum führen: Ich darf zwar gegen einen anderen nicht falsch aussagen, aber wie steht es mit einer Falschaussage für den anderen? So gesehen dürfte kein Gericht der Welt eine falsche Alibilieferung bestrafen. Es tut es aber, da - so ehrenvoll die Zehn Gebote auch sind - nicht einmal das kleinste Bezirksgericht das Strafgesetzbuch gegen die beiden steinernen Tafeln des Moses austauschen würde.
Dieser kleine Ausflug in die Welt der (angewandten) Theologie soll unsere gesamte zwiespältige, widerspruchsvolle und ungeklärte Haltung gegenüber der Lüge charakterisieren.
Jetzt aber zurück zu meinen wissenschaftlichen Zunftgenossen: Es ist noch gar nicht so lange her, seit Soziologen und Psychologen das Verlockende an der Lüge entdeckt haben und sich seither redlich bemühen, die Verteufelung der Lüge etwas zu entschärfen, indem sie dem populistischen Weg der öffentlichen Meinung folgen und künstliche Grenzen zwischen "kleinen" und "großen", "weichen" und "harten" Lügen ziehen. So werden die barmherzige Lüge des Arztes, die Komplimente des Ehemannes und die Lobhudeleien der Untergeordneten als etwas Harmloses abgetan und moralisch sanktioniert. Wo jedoch die "große", verwerfliche Lüge beginnt, darüber bekommen wir selten eine eindeutige Antwort.
Diese weiche Landung auf dem sumpfigen Boden der "kleinen" und halbherzigen Viertellügenchen hat mich immer schon gestört und widersprach meiner radikalen Mentalität. Daher begann ich vor zwei Jahrzehnten, die sozialanalytischen Wurzeln der Lüge zu erforschen.
"Alle Menschen lügen, wer das Gegenteil behauptet, lügt", so verkündet unmißverständlich der Titel des Buches von Peter Stiegnitz, der die Lehre von der Lüge, die Mentiologie, ins Leben gerufen hat. So versuchte ich in der Mentiologie von Anfang an, systematisch vorzugehen und legte die beiden Eckpfeiler der Lüge, die jedweder Diskussion und Behandlung des Themas vorangeschickt werden müssen, fest: die Definition und die moralische Grenze:
- Die Lüge ist nichts anderes als die bewußte oder unbewußte Abwendung von der Wirklichkeit
- die moralische Grenze der Lüge verläuft dort, wo ich mit meiner Lüge mir oder anderen bewußt Schaden zufüge.
Ohne uns jetzt mit der großen theoretischen Diskussion, ob Täuschung, Tarnung, Irrung, Irrtümer, Tünche usw. usf. bereits Lügen sind oder nicht, zu befassen, muß etwas festgehalten werden: Alles ist Lüge, was sich (bewußt oder auch unbewußt) von der Wirklichkeit entfernt. So gesehen ist auch die Kosmetik, mit der (mehr frau als) man die Fältchen und Pickel im Gesicht vertuschen will, eine Lüge und vieles andere mehr. Wenn wir diesen Standpunkt ein- und annehmen, wie es die Mentiologie macht, so müssen wir die Lüge innerhalb der "moralischen Grenze" rehabilitieren, ihre psychohygienische Nützlichkeit betonen.
Mein Credo lautet: Gehen wir mit der Lüge ehrlich um! Sie ist unsere treue Lebensbegleiterin, sie hilft uns über zahlreiche Schwierigkeiten und Tücken hinweg, sie hat es verdient, nicht verleugnet zu werden.
Ich vergleiche die Lüge gerne mit einem Medikament: In kleinen, behutsam eingenommenen Dosen hält sie uns am Leben, in Übermengen bringt sie uns um. Wie vieles im Leben, so ist auch die "Einnahme", die Verwendung der Lüge, nur eine Frage der Dosierung.