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Die moderne, fast naturwissenschaftlich orientierte Geschichtsforschung sieht weitgehend ab von allen mit der Person des Jesus von Nazareth verbundenen Glaubensproblemen. Diese Abstraktion hat Vor- und Nachteile. Die Vorteile liegen vor allem darin, daß wir uns ein genaueres Bild von den Lebensumständen, den Voraussetzungen, den politischen Situationen, den wirtschaftlichen Gegebenheiten und vielen anderen Umständen Jesu und seiner Zeitgenossen machen können. Wir können nach unseren Maßstäben und im Rahmen unseres Weltbildes feststellen, was damals geschehen sein kann oder nicht. Natürlich wird auch hier nicht immer Übereinstimmung zwischen den Wissenschaftlern erzielt werden können, da bei vielen Bemerkungen des Neuen Testaments nicht dabeisteht, wie sie zu interpretieren sind. Wurde Jesus beispielsweise nachts verurteilt, weil sein Prozeß nach den Aussagen der Schrift mit "der Stunde der Finsternis" zusammenfiel?
Fragt man aber nach den Bedeutungen der Wörter Licht und Finsternis im Neuen Testament, so überschreitet man früher oder später den Bereich exakter Geschichtswissenschaft und findet sich plötzlich mitten in jenen Problemen, die man so sorgfältig ausgeklammert hat, um Geschichtswissenschaft im modernen Sinn betreiben zu können. Hierin liegt der Nachteil der Methode. Ist Jesus ohne "religiöse Brille" überhaupt zu verstehen? Muß diese Frage verneint werden, wie kann man dann noch wissenschaftliche Aussagen über ihn machen? Ist da nicht eine Betrachtung der Person Jesu notwendige Standpunktsache? Muß die Frage aber bejaht werden und braucht man also für das Verständnis der Person Jesu nicht notwendig eine religiöse Brille, wie kann dann die Wissenschaft so vieles, was er selber gesagt hat oder was ihm jedenfalls in den Mund gelegt wird, vernachlässigen und noch Wissenschaft sein? Oder wie will man exakte Wissenschaft betreiben und zugleich erläutern, was "Sohn Gottes" bedeutet? Was heißt das: "Gott ist die Liebe?" Was heißt überhaupt Gott? Welche "Wissenschaft" sollte diese Fragen beantworten?
Es ist ein Anliegen dieses Buches zu zeigen, daß die historisch-kritischen Methoden hier nicht ausreichen. Die Wissenschaft kann zwar helfen, den Sinn der Aussagen zu verstehen; umgekehrt stellen die Aussagen Jesu und des Christentums aber für die Wissenschaft eine Voraussetzung dar. Man kann natürlich auch im Rahmen der Wissenschaft die Frage stellen: Was wissen wir von Jesus? Welches Gewicht und welche Glaubwürdigkeit haben die Aussagen des Neuen Testaments über die Person Jesu und das, was er gesagt hat? Zu welchen Feststellungen kann man mit Hilfe der modernen Geschichtsforschung gelangen?
Man hat fast alle Probleme mit einem Schlag vorliegen, sobald man sich überlegt, was man denn über die Geburt Jesu auszusagen vermag. Schon das bloße Bemühen, einen Ort oder eine Jahreszahl festzustellen (von einem genauen Datum ganz zu schweigen), stößt auf erhebliche Schwierigkeiten - aber nicht etwa, weil es in den heiligen Schriften keine Datierungen gäbe, fast könnte man sagen: im Gegenteil. Geburt und Tod Jesu sind das einzige, was in den Evangelien genau datiert wird. Bei näherem Zusehen stellt sich jedoch heraus, daß die Evangelisten bei Feststellung eines Datums oder eines Ortes sicherlich nicht von unseren Motiven geleitet worden sind - und damit beginnen die Schwierigkeiten.
Die Geburtskirche Jesu steht heute in Bethlehem, rund zehn Kilometer südlich von Jerusalem. Bethlehem wird als Geburtsort in den Evangelien mehrmals erwähnt. Bei Matthäus 2,1 heißt es: "Als aber Jesus in Bethlehem in Judäa in den Tagen des König Herodes geboren war …" Auch Lukas2,4 erwähnt Bethlehem als Geburtsort. Nach der damaligen Gewohnheit wurde der Geburtsort meist an den Namen angehängt, und man müßte nach der Darstellung des Matthäus wie des Lukas eigentlich "Jesus von Bethlehem" gesagt haben. Statt dessen gilt als Herkunftsort Nazareth. Bei dem Versuch, diese Diskrepanz zu erklären, liefern die Evangelien Widersprüche. Nach Lukas wohnen die Eltern Jesu in Nazareth und ziehen wegen der Volkszählung für kurze Zeit nach Bethlehem; nach Jesu Geburt kehren sie wieder nach Nazareth zurück.
Der Grund, in Judäa mit einer hochschwangeren Frau nach Bethlehem zu ziehen, ist recht eigenartig: Josef stammte aus dem Geschlecht Davids und wollte sich in der Stadt Davids "aufzeichnen" lassen; David wurde hier nach 1 Samuel 16,1-3 zum König gesalbt. Die Eigenschaft Bethlehems als Davids Stadt scheint nun auch der Grund zu sein, warum Lukas und Matthäus auf das Bethlehem im Lande Judäa als Geburtsort soviel Wert legen. Jesus von Nazareth wurde auf diese Weise mit dem Messias, der Davids Sproß sein sollte, in Zusammenhang gebracht. Matthäus sagt dies noch deutlicher als Lukas und zitiert das Alte Testament: "Denn du, Bethlehem im Lande Judas, bist nicht die Geringste, denn aus dir wird hervorgehen, der herrschen wird in Israel" (Mich. 5,1).
Nach Matthäus wohnen die Eltern Jesu ursprünglich in Bethlehem und lassen sich erst nach dem Kindermord, der Flucht nach Ägypten und der Rückkehr von dort in Nazareth nieder. Die Flucht nach Ägypten scheint ein typischer Beweis dafür zu sein, daß bei Matthäus die Geographie und die Geschichte im Dienst einer Heilskonzeption stehen: "Entscheidend für die Gestaltung von Matthäus
2 ist das Anliegen, Bedeutung und künftiges Schicksal der Person des Messias schon in den Ereignissen seiner Kindheit aufleuchten zu lassen", heißt es in einem Bibellexikon. Die Flucht nach Ägypten sieht sehr nach einer "Konstruktion von rückwärts" aus, denn abgesehen von den technischen Schwierigkeiten (eine Fahrt über das Meer war auch damals nicht billig und eine Reise durch die wasserlose Wüste Sinai, noch dazu mit einem Kleinkind, fast unmöglich), hätte man nicht bis Ägypten reisen müssen, um dem Einflußbereich des Herodes zu entgehen.
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