ICH, SELBST und BEWUSSTSEIN
von Univ.-Lektor Prof. Mag. Dr. Walter W. Weiss
Auf der Suche nach Gewißheit
"Vor Gott und im Verkehrsstau sind alle Menschen gleich", lautet ein bekannter Kalauer, und man mag sich fragen, was das mit einer philosophischen Aussage zu tun hat.
"Alle Menschen sind Brüder", sagte - angeblich - Jesus Christus, und meinte deren Gleichheit - man wird sich abermals fragen, welche philosophische Relevanz ein religiös motivierter Satz haben soll.
"Alle Menschen haben gleiche Rechte...", manifestiert die Menschenrechtsdeklaration - aber Recht ist allemal etwas Gesatztes und sicherlich nichts Absolutes.
Der Philosophie geht es weder um Kalauer oder theologische Aussagen, noch um Deklarationen, sondern um Erkenntnisse, die das Modelldenken überschreiten und sich auch nicht auf bloße Absichtserklärungen beschränken (sollen). Zwar ist noch kein Philosoph unwidersprochen geblieben, aber zumindest im Moment der Ausformulierung seiner Thesen und Ansichten fühlte sich jeder Denker der Wahrheit auf der Spur - was immer "Wahrheit" auch sein mag. Und da es das Ziel jedes ideologiefreien Denkens ist, Allgemeingültigem nahezukommen, wird das Problem des Philosophen transparent: nach Möglichkeit widerspruchsfrei, also allgemein akzeptierbar zu formulieren und so Gewißheit zu vermitteln.
Es ist diese Suche nach der unverrückbaren Gewißheit, die Naturwissenschaft, Philosophie und die monotheistischen Religionen eint. Die Naturwissenschaft glaubt sie in der G.U.T. (Große Vereinheitlichungs Theorie: alle vier physikalischen Grundkräfte werden auf eine Urkraft zurückgeführt) zu finden, die Philosophie in ihrem Streben, die eine Wahrheit zu fassen (Archimedes: Gebt mir einen festen Punkt, und ich hebe Euch die Welt aus den Angeln). Nur die monotheistischen Religionen sind überzeugt, diese Gewißheit in ihrem Glauben an den Einen, ewigen Gott bereits gefunden zu haben.
Das Platonische Dreieck, nach dem es drei (gleichwertige?) Möglichkeiten gibt, das Geheimnis der Welt zu entschleiern, mag ein gutes Bild für diese Versuche sein: laut Platon kann die Welt
# von Gott bzw. der Idee oder dem Absoluten her erklärt werden. Es ist der Weg der Religionen bzw. der idealistischen Philosophien, also jener Platons selbst oder jener der deutschen Idealisten.
# Sie kann vom Materiellen, vom sinnlich Erfahrbaren, von der Natur her erforscht werden. Es ist der Weg der Naturwissenschaft.
# Oder sie wird von jenem festen Punkt aus begriffen, als den sich der selbstbewußte Mensch erfährt: als ein Ich.
Gott muß geglaubt werden, wir begegnen ihm nicht als Ding in Zeit und Raum, er entzieht sich unserer empirischen Erfahrung. Daher gibt es soviele Gottesbilder wie es Menschen gibt. Die Natur muß - um verstanden zu werden - zerlegt (analysiert) und wieder zusammengesetzt (synthetisiert) werden. Dies erfolgt durch die Forschung und ihre Experimente. Experimente aber können mehrdeutig interpretiert werden; eine Analyse kann eine x-beliebige sein, zerlegt kann auf vielfache Weise werden. Nur aus der Synthese muß wieder das Ganze resultieren. Aber selbst was ich als Ganzes sehe, ist Konvention: der einzelne, das Paar, die Familie, die Gruppe, das Volk, die Rasse (?), die Menschheit, das All? Wie immer man es anstellt: Der Vielfalt der Modelle, Theorien und Hypothesen, der Weltbilder und Ideologien ist keine Grenze gesetzt.
Mein Ich dagegen ist einzig. Ich sollte mir daher das einzige Gewisse sein in der Welt der Vielheit, der Welt des Objektiven, all dieses außer mir Befindlichen. An allem kann ich zweifeln, außer, daß ich bin: Cogito, ergo sum - ich denke, also bin ich, folgerte Descartes. Und er schloß: Denken können alle Menschen, also gleichen sie sich darin, daß sie sich als ein Ich gewiß sind.
Doch seltsam: Die wenigsten Menschen, die wenigsten Philosophen bauen auf diese Gewißheit des Ich. Die schon von Platon desavouierten Sophisten, dann Descartes und Fichte, später Sartre und Kirkegaard sind die wenigen historisch belegten Ausnahmen, die davor nicht scheuten. David Hume hat den weitverbreiteten Ich-Zweifel auf den Punkt gebracht: "Die Menschen neigen dazu, sich eher für ein Stück Lava im Mond zu halten, als für ein ich." Wieso wird diese Gewißheit des Ich von so vielen geleugnet oder zumindest als Illusion dargestellt? Wäre sie doch der Garant für die Gleichheit aller, gemäß den Idealen der französischen Revolution: liberté, fraternité, egalité!
Wer oder was ist dieses Ich?
Außen und Innen
"Was ist das?" lautet üblicherweise die Frage, über die der werdende Mensch seine Welt erfährt und erlernt. Dieses "das", das er lernen (=erkennen) möchte, ist als erstes etwas außerhalb von ihm: Es ist ein Objekt. Eltern, Lehrer, die spätere eigene Erfahrung, das Lernen schlechthin geben dann die Antworten auf die Frage, was dieses oder jenes wohl sein mag. Was etwas ist bzw. als was es erklärt wird, ist aber stets abhängig sowohl vom Bewußtseinsstand des Fragenden als auch von dem des Antwortenden. Wofür etwas gehalten wird, ist immer eine Frage der Zeit respektive der Kultur, zu der oder in der die Antwort gegeben wird. Was etwas ist, entscheidet definitorisch stets die Gruppe - wenn die zu definierenden Objekte intersubjektiv erkenn- bzw. erfahrbar sind. Solange etwas - in der Regel - angeschaut, angegriffen, hergezeigt oder zumindest beobachtet werden kann, läßt sich darüber mehr oder weniger überprüfbare Einigung herstellen.1) Kann etwas nicht direkt beobachtet werden, ist es kein Objekt oder Phänomen (in) der Raumzeit, türmen sich sofort Bestimmungs- und Definitionsschwierigkeiten auf:2) Was ist Freiheit? Was ist Liebe? Was ist Glaube? Oder: Was ist Demokratie? Was ist Gott?
Was heißt "ich"? Das Ich ist weder herzeigbar, kein Objekt außerhalb von mir, noch in jenem Sinn erfahr- oder definierbar wie eine Lampe oder eine Ahornblatt etwa. Das Ich ist überhaupt kein Ding, weder außerhalb noch innerhalb von mir. Das Ich hat keine - physikalischen - Eigenschaften, es ist nicht rund, nicht schwer, nicht blau auch nicht magnetisch oder wasserdurchlässig. Hat es überhaupt Eigenschaften?
Das Ich als Rückbezügliches
"Hat" jeder Mensch ein Ich? Jeder Mensch meint mit "ich" sich - zumeist etwa ab seinem dritten Lebensjahr. Zwar sagt er es in verschiedenen Sprachen, aber stets mit der gleichen Bedeutung: indem er dasjenige damit bezeichnet, als das er sich erlebt: als unverwechselbare, einmalige, nicht vervielfältigbare, unwiederbringliche Einheit, die sich für den Mittelpunkt der (seiner) Welt hält, in der sich alles fokussiert, von der aus sie erst ihre Bedeutung erhält, durch die die Welt überhaupt erst zu dem w i r d , als was sie erlebt wird. In diesem steten Auf-sich-selbst-Beziehen sind alle Menschen gleich: und zwar ununterschieden und ununterscheidbar. Dieses Sich-selber-Meinen, dieser Akt der Selbstreflexion, ist - im Unterschied zu allem anderen Bezeichneten oder Gemeinten - kein Objekt, sondern das Subjekt schlechthin. In dieser einmaligen Unterschiedenheit zu allem anderen fällt es als einziges aus der Welt der Vielheit heraus:
(1) Das Ich unterscheidet sich als einziges Rückbezügliche von allem anderen
Das Ich als Nicht-Objektives
Die Selbstreflexion des Ich-Meinens ist so einmalig und einzigartig in unserer Welt, daß unser Bewußtsein mit dem eigenen Ich nicht zurechtkommt: weil es gewohnt ist, nur mit Unterschiedenem und Unterscheidbarem umzugehen - mit den uns umgebenden Objekten nämlich, die wir "die Welt" nennen. Die Folge dieses Unvermögens ist: Meistens wann wir "ich" sagen, setzen wir uns nur wieder als ein Objekt von anderen Objekten ab. Damit bleibt unsere Welt "in Ordnung": als das Theater mit uns als einem Objekt unter vielen. Allerdings kann das Ich - aufgrund seiner Nicht-Äußerlichkeit und Nicht-Objektivierbarkeit - gar kein Objekt sein: ihm gehen alle Eigenschaften, die ein Objekt ausmachen - nämlich Form, Stoff, Lage, Bewegung, Veränderung, Dauer etc. - ab. Ohne solche Eigenschaften ist etwas vorstellungsmäßig nicht faßbar, weil es sinnlich nicht erfahrbar und somit intersubjektiv nicht beschreibbar ist3).
Der naturwissenschaftlich Denkende müßte nun schließen: Also gibt es das Ich gar nicht. Denn was nicht erfahren und allgemein nachvollziehbar beschrieben werden kann, hat keine gesicherte Existenz - zumindest nicht für das naturwissenschaftliche Denken. Dieses beschränkt sich explizite nur auf Objektives, Beschreibbares und intersubjektiv widerspruchsfrei Kommunizierbares.
Tatsächlich ist das Ich aus der Naturwissenschaft ausgeklammert und für sie nicht existent: Freuds Theorien gelten nach wie vor als unwissenschaftlich, auch wenn sich Freud wissenschaftlicher Methoden bediente (was ein Widerspruch in sich ist und Freuds Theorien nicht gerade glaubwürdiger macht). Auch die Schulmedizin betrachtet den Menschen als bloß organische Maschine ohne Ich. Erst alternativ- oder komplementär-medizinisches Denken bezieht den "ganzen Menschen" (was immer das ist: Maschine plus Ich? Maschine mit Ich? Die Einheit Mensch?) mit in seine Anamnese ein - sehr zum Protest vieler im alten Weltbild verhafteter Schulmediziner.
Der introspektierende Mensch, der nach "seinem" Ich sucht, kann dieses tatsächlich nicht finden; zumindest nicht als beschreibbares Objekt, über das er dann anderen berichten könnte.
Wir müssen unser Ich daher als Nicht-Objektives bestimmen.
Die Analogie von Punkt und Ich
Wir nehmen dazu Hilfe in der Mathematik und zwar beim Punkt. Auch ein Punkt ist nichts Herzeigbares, nichts Angreifbares, nichts Abwägbares oder irgendwelche Eigenschaften habendes. Er ist vielmehr genau das Gegenteil von alledem: er hat keine Ausdehnung, keine Form, besteht nicht aus Stoff, hat damit keine Gestalt, natürlich auch kein Gewicht oder irgendwelche sonstigen physikalischen Eigenschaften. Seine Eigenschaft ist, keine (physikalische) zu haben.
Der Punkt ist ein Konstrukt. Man kann sich ihn nicht vorstellen, aber auf mancherlei Weg zu einem Bild von ihm gelangen: Der bekannteste ist wohl jener, einen Kreis gedanklich solange zu verkleinern, bis sein Radius Null ist. Und obwohl der Punkt keine Existenz in der Raumzeit hat (weil ihm jede Ausdehnung bzw. Ausbreitung fehlt und er als Form- und Stoffloses, zumindest laut Alltagssprache, "nichts ist"), setzen sich aus ihm respektive seiner (unendlichen!) Menge im mathematischen Denken Geraden und Kurven, Linien und Flächen, sogar ganze Körper zusammen. Dabei gilt für alle Punkte: sie sind ununterschieden und ununterscheidbar gleich.4)
Es ist genau diese Ununterschiedenheit angesichts ihrer unendlichen Vielheit, die sie von allem Existierenden (das immer endlich ist!) unterscheidet. Denn die Vielheit des Existierenden gründet nur auf deren unterschiedlichen Eigenschaften (=Qualitäten), während die Vielheit des Konstruktes "Punkt" einzig auf der Qualität ihrer Gleichheit basiert. Diese Qualität kann damit als absolute (=reine) Quantität bezeichnet werden.
(2) Punkte existieren nicht: Sie sind bloße Abstraktionen des menschlichen Geistes
Nun wenden wir das Modell des Punktes auf unser Ich an. Auch dieses ist ausdehnungslos, hat keine Gestalt, besteht nicht aus Stoff, hat kein Gewicht oder sonst welche (physikalische) Eigenschaft. Seine Eigenschaft besteht darin, keine (physikalische) zu haben. Hätte es welche, würde man es "irgendwo" "in" uns finden.
Demgegenüber versichere ich jedem, der es hören und nicht hören will, ein Ich zu sein.
"Ich" dürfte mit "Programm" oder "Funktion" zu tun haben.
Das Ich als Funktion
Unter Funktion versteht man die Verknüpfung zweier oder mehrerer Parameter zu einem Ablauf, einer Handlung, einem Geschehen, einer Interaktion. Die Verknüpfung geht nach bestimmten Parametern vor sich (Algorhythmen), die die ganz spezifische Art und Weise dieser bestimmten Funktion festlegen. Mathematische (Kurven-)Funktionen sind das bekannteste (abstrakte) Beispiel.
# Damit etwas Konkretes "funktioniert" (eine Kochplatte etwa), müssen ganz bestimmte Parameter erfüllt sein: Strom gewisser Stärke, Schalterstellung auf "EIN", gewendelter, entsprechend dimensionierter und isoliert verlegter Heizdraht etc.
# Damit das Ich "funktioniert", müssen unvergleichlich mehr und untereinander vernetzte Parameter zusammenspielen, um das Icherleben zu gewährleisten. Vergröbert und ohne in das funktionale Detail dieses Netzwerks einzugehen (was zum derzeitigen Stand des Wissens auch gar nicht möglich wäre!) lassen sich aber drei Gruppen von Parametern unterscheiden:
1) als "Äußerliches" alle jene Reize, die uns unser Körper aus der Außenwelt zukommen läßt (Sinnenwelt, "Empirie", aber auch das Überich im Freudschen Modell);
2) als "Innerliches" alle jene neuronalen Verschaltungen in unserem Gehirn, die ein Empfangen dieser Signale und ihr Korellieren ermöglichen (die "Kategorien" des Denkens; Kantens "a priori", Leibnitzens "intellectus ipse", aber auch die psychischen Kräfte wie An-Triebe, Wille, Interessen; im Freudschen Modell das Es);
3) das Phänomen des "Auf-sich-Zentrierens", das sich als Ichbewußtsein äußert, zwischen "außen" und "innen" vermittelt und das "Fokussieren" des Datenflusses auf sich, seine Interpretation und Dekodierung sowie die subjektive (!) Bedeutungszuweisung vornimmt.
Diese subjektive Bedeutungszuweisung ist Resultat der Erfahrung, die üblicherweise als "subjektives Erleben" bezeichnet wird und aus der beständigen Verknüpfung von Eindrücken und Bewertungen resultiert. Dabei erfolgen sowohl die Eindrücke als auch die Bedeutungszuweisung selektiv und sind ihrerseits gelernt, sprich, sie passen sich ständig verändernd an das jeweilige Umweltgeschehen an. Je rascher und fehlerärmer diese Anpassung erfolgt, als desto intelligenter gilt der Verrechnungsapparat "Gehirn".
Genauso, wie die Einheit des Konstruktes Punktes durch entsprechende Funktionen zu Linien, Flächen und Körper konkretisiert werden kann, verwirklicht die Einheit des Ich durch die Funktion des Rückbezugs das Selbstbewußtsein:
(3) Das Ich ist die Art und Weise, wie sich das Selbstbewußtsein verwirklicht
oder
(4) Das Ich ist die Funktion des Rückbezugs des Selbstbewußtseins
bzw.
(5) Das Ich ist das Voraussetzende des Selbstbewußtseins
Zentripetalität und Egoismus
Das Ich bzw. das sich "Ich" nennende Selbstbewußtsein empfindet sich stets als Zentrum des Weltgeschehens: Alles wird zentripetal interpretiert. Genau in dieser zentripetalen Interpretation allen Geschehens liegt das Ununterschiedliche aller Iche: Alle Selbstbewußtseine interpretieren (=verrechnen) zentripetal, stellen also - analog zur physikalischen Radialkraft - eine von außen her zum Zentrum gerichtete Wechselwirkung dar. In diesem Sinn sind alle Iche ununterschieden - wie Punkte.
(6) Das Gleiche aller Menschen liegt im unterschiedslos zentripetal ausgerichteten Selbstverständnis eines jeden
Unterschiedlich sind nur die Inhalte, die zentripetal verrechnet werden - und unterschiedlich sind ergo auch die Individuen bzw. Individualitäten. Sie müssen unterschiedlich (re-)agieren, da jedes Selbstbewußtsein in einer anderen Umwelt lebt. Daher sind alle Menschen verschieden - und dennoch gleich: "Brüder", wie Christus sie nannte, oder "gottähnlich", wie es die Kirche (vielfach mißverstanden und mißverständlich) ausdrückt.
Wenn daher verschiedene Ideologien (Kommunismus, Kirchen, japanischer Kollektivismus, Solidarität im allgemeinen) dem zentripetalen Element des Denkens erzieherisch entgegenwirken, sollten sie nur die Überbetonung dieses Selbstbezugs (Egoismus) entschärfen. Es ist daher bedenklich und im Grunde genommen widernatürlich, normales ichbezogenes Verhalten als praktische Auswirkung zentripetaler Verrechnung als böse oder schlecht zu brandmarken. Das Zusammenleben in einer Sozietät verlangt allerdings eine gewisse Rücknahme egoistischer oder egozentrischer Verhaltensweisen - aber eben nur deren "gewisse" Rücknahme.5)
Selbst und Selbstbewußtsein
Was ist Bewußtsein? Was ist Selbstbewußtsein? Was ist "Selbst"?
(7) Unter Bewußtsein verstehen wir jene Fähigkeit eines Organismus, auf veränderte Umwelteinflüsse veränderbar (=lernend) zu reagieren.
Steine haben kein Bewußtsein: Wenn sie fallen, fallen sie immer gleich, und zwar gemäß der Formel des Fallgesetzes s = g/2 t2. Tiere haben Bewußtsein: Wenn sie fallen, reagieren sie: sie spreizen die Beine oder die Flügel, sie spinnen einen Faden usw. Wenn Menschen fallen wissen sie (meistens), daß sie fallen. Sie reagieren je nachdem: beim Bungie jumping mit Hochgefühl und/oder Furcht; beim Absturz in einem Flugzeug mit Todesangst und/oder Gebet, einem Fluch auf den Lippen oder Lähmung; wenn es nicht allzu hoch ist, reagieren sie wie die Tiere: sie spreizen Arme und Beine, und wer gelernt hat zu fallen, läßt sich federnd abrollen. Wer es nicht gelernt hat, bricht sich die Beine. Selbstbewußtsein heißt also, sich in einer Situation zu wissen. "Sich" bedeutet dabei - siehe (4) - die Funktion des Rückbezugs, die wir "Ich" genannt haben. Das Ich- oder Selbstbewußtsein ist somit eine evolutionsbedingte Fortentwicklung des Bewußtseins von bloßer Reaktion zu wissender Reaktion. Selbstbewußtsein und Ich bedingen einander (5), wie eine mathematische Funktion die Form der durch sie beschriebene Kurve bestimmt.
Wir schreiben ein solches Selbstbewußtsein üblicherweise nur uns Menschen zu, doch zeigen modernste Untersuchungen an Schimpansen und Bonobos, daß auch diese über Selbstbewußtsein verfügen (müssen). Allerdings erkennen nur Bonobos sich im Spiegel
- ein Erkenntnisvorgang, der in der Natur (mit Ausnahme beim Menschen) beim derzeitigen Stand der Forschung einmalig sein dürfte6).
Selbstbewußt ist somit derjenige, der sich als von allem anderen als einmalig geschieden bzw. unverwechselbar unterschieden erkennt. Man nennt dieses Erkenntnisprodukt der Selbsterkenntnis auch Individualität, im Unterschied zum Individuum, das nur als austauschbares einzelnes unter vielen gilt. Als Erkenntnisprodukt bezeichnen wir die Individualität deshalb, weil sie bereits ein Produkt eines Aktes ist: jenes Erkenntnisvorganges nämlich, im dessen Verlauf ein Ich sich auf sich selbst bezieht. Diese rekursive (selbstbezügliche) Aktivität steht im wesentlichen Unterschied zu allen anderen Aktivitäten des Ich, bei denen ja nicht mit sich, sondern mit anderem umgegangen wird, was in der Psychologie Verhalten heißt.
Fällt die unmittelbare7) Einheit des rekursiven Aktes (=Selbsterkenntnis) auseinander, wird daraus die übliche Dualität des Ich-sagenden- und Ich-meinenden-Ichs, in jener (alltäglichen) Form, indem man etwa zu sich sagt: "Da hast du dich aber ungeschickt verhalten" - und das eigene Verhalten damit meint. Man behandelt sich dabei wie ein Objekt, das man bewertet. Introspektion nennt man diesen Vorgang in der Psychologie - wie problematisch diese "wissenschaftliche" Methode daher sein muß, erkennt man angesichts der weiter oben gemachten Bestimmungen des Ich: Man kann sein Ich nie durch Introspektion (In-sich-Schau oder Selbstschau) erkennen oder erfassen; vielmehr ist der Akt der Selbstschau bereits Ich.
Die rekursive Aktivität des Ich darf daher nicht mit dem Modell des anschauenden Ich (=Subjekt) und angeschauten Ich (=Objekt) erklärt werden. Damit würde die Identität des Ich zerstört und es verdoppelt (Dualismus). Vielmehr muß zur Form der trinitären Einheit gegriffen werden, zu Sätzen, die aus drei untrennbaren Termen bestehen und die gewünschte Einheit erst durch diese Unauflösbarkeit konstituieren. Die älteste Formulierung ist in der Bibel nachzulesen und lautet:
(8) Ich bin, der ich bin8)
oder verkürzt
(9) Ich [1] bin [2] ich [3] 9)
Im üblichen dualistischen, empirischen Alltagsdenken sind (8) und (9) Tautologien: Es wird in diesen Sätzen nichts neues ausgesagt, sie sind Selbstprädikationen, die auf alle Fälle wahr sind. Im monistischen, die Subjekt-Objekt-Trennung transzendierenden Denken werden (8) und (9) als unauflösbare trinitäre Einheit verstanden, deren Splittung in drei Einzelteile sinnleer ist und die selbstbezügliche ("tautologische") Identität als elementare Einheit des Selbstbewußtseins vernichtete. Es ist ja das Wesen von elementaren Einheiten (auch in der Physik!) daß sie nicht mehr als Zusammengesetzte erklärt werden dürfen, sondern nur sie selbst sind.
(10) Elementare Einheiten sind nur sie selbst und aus nichts anderem mehr zusammengesetzt
"Ich bin, der ich bin" respektive "Ich bin ich" sind die klassischen Formulierungen des Selbst(bezugs). In ihren Formen (8) und (9) wird freilich totale Statik im Sinne von Unveränderlichkeit ausgedrückt.10)
Die Welt (=das Universum) ist aber per se eine sich ständig verändernde, in der alles Quantitative (=alles Vereinzelte und damit Viele, also alles Realisierte oder alles Dingliche des Raum-Zeit-Kontinuums) wird, ist und vergeht. Um diesen steten Wandel (Aristoteles spricht vom "steten Werden des Möglichen zum Wirklichen") auch auszudrücken, müssen die statischen Sätze (8) und (9) dynamisiert werden: Wir setzen für die Identität des statischen "Ich bin, der ich bin" den Ausdruck "Selbst", bewerten dieses Selbst als Möglichkeit der Identität und bezeichnen die wirklich gewordene Identität als "Ich". Es folgt:
(11) Das Selbst ist als Ich
oder, da Sein nur als Werden ist:
(12) Das Selbst [1] wird (wirklich) [2] als Ich [3]
Das Selbst entspricht dabei in aristotelischer Sicht der statischen Möglichkeit (Potenz), das Ich seiner dynamisch gewordenen Verwirklichung (Akt). Anders ausgedrückt: Ein Ich ist die einzige mögliche Art und Weise, wie die Identität des Selbst sein kann. Wobei der Begriff des Selbst (als noch nicht wirklich gewordene Möglichkeit "nur" abstrakte Qualität) nicht quantifizierbar ist, der Begriff des Ich aber (als bereits verwirklichte Möglichkeit ein einzelnes unter vielen, also konkrete Quantität) sehr wohl. Daher gilt:
(13) Das Selbst ist die abstrakte Qualität der Identität als bloße Möglichkeit, ein Ich seine quantifizierte Konkretisierung.11)
Daraus ergibt sich, daß dem Selbst eine vom Werdensprozeß unabhängige Existenz gar nicht zukommen kann, sondern das Selbst nur in seinen Vereinzelungen als Vielzahl der Iche wirklich wird. Dieses Werden erfolgt durch aktives Auf-sich-(selbst)-Rekurrieren (eine Funktion!) des Ich im Selbstbewußtsein. Um diese bewußte Rekursion zu ermöglichen, müssen die Fähigkeit des Unterscheiden-Könnens zwischen anderem und sich, zwischen Vielem und Einem, zwischen veränderbarem Äußeren und unveränderlichem Zentrum (="Innen") physiologisch vorausgesetzt sein. Kurz: Es braucht ein organisches Substrat, das zu lernfähiger Erfahrung fähig ist. Wir haben diese "lernfähige Erfahrung" weiter oben als "Bewußtsein" definiert und das organische Substrat als Gehirn.
Nichts und Selbst
Bewußtsein ist wirklich nur als realisiertes, mit seiner Umwelt agierendes und wechselwirkendes einzelnes: als Lebewesen nämlich. Kybernetisch ausgedrückt handelt es ich dabei um ein offenes System. Sein dafür nötiges Organ ist das Gehirn. Sich ein Bewußtsein losgelöst von einem Gehirn zu denken ist genauso widersprüchlich, wie sich einen Kreis ohne Mittelpunkt vorzustellen. Erst die veränderliche Reaktion des
Organismus auf die Umwelt (die ersten "Erfahrungen" des Lebendigen, allgemein auch "Lernen" genannt) ermöglicht das Entstehen von Bewußtsein. Es scheint daher folgende aufsteigende (evolvierende) Entwicklung evident:
(14) (Nichts) - unbewußt Seiendes - bewußt Seiendes - selbstbewußt Seiendes - (Selbst)
"Nichts" und "Selbst" sind in Klammern gesetzt, da beide Begriffe bloße Abstraktionen des menschlichen Geistes vom Realisierten (=Verwirklichten, Existierenden, auch "Welt" bzw. "Universum" genannt) sind, also bloße Konstrukte darstellen. Weder kommt dem Nichts eigenes Da-Sein (=Existenz) zu, noch dem Selbst. Beide Begriffe sind Grenzbegriffe, die sich aus Totalabstraktionen ergeben: Im Falle des Grenzbegriffes "Nichts" wird von allem Seienden abgesehen, im Falle des Grenzbegriffes "Selbst" von jedem Bewußtsein. Wird von allem Seiendem abgesehen, kann schon aus evidenten Gründen dem Nichts kein Sein zukommen, da Sein nur seiend ist!12)
Wird von Bewußtsein abgesehen, wird der Begriff des Selbst obsolet: Selbst wird ja nur dann wirklich, wenn sich etwas auf sich selbst bezieht. Das Selbst ohne Bewußtsein wäre wie das Sein ohne Existenz oder (religiös formuliert) wie Gott ohne Welt.13)
Der Tod Gottes und seine monistische Auferstehung
Philosophisch geistern die Begriffe des Nichts und des Selbst als von allem Existierenden losgelöste Entitäten, seit es Philosophie gibt, durch deren Tradition. In dieser falschen Verwendung von Nichts und Selbst gründen sowohl der Schöpfungsmythos, also die Schaffung der Welt "aus dem Nichts" (modern wiederaufbereitet als Urknalltheorie), als auch der Mythos des ewigen Gottes, des "reinen Selbst", der "zuerst" die Welt und "am 6. Tag" sein "Ebenbild" (!) "schafft". Verbleiben wir in diesem dualistischen, schiefen Bild, rückt es selbst quasi-logisches Schließen nicht zurecht:
Als von der Welt getrenntes gedachtes absolutes, aber dennoch "existierendes" Selbst14), müßte auch ein solcher Gott auf sich rekurrieren15). Als im dualistisch- religiösen Denken "Ewiger" und damit Nicht-Werdender genügt einem solchen Gott aber die statische Trinität zur hypothetischen Selbstbestimmung: Ich bin, der ich bin (8) (siehe auch Anmerkung 3 auf Seite 10). Werden kommt diesem hypothetischen (in der Religion aber real existierenden!) Gott nicht zu.
Erst durch den (oder: im) mythologischen und kausal nicht zu rechtfertigenden, völlig willkürlichen (="spontanen") Schöpfungsakt treten Dynamik, also Veränderung, Werden und Bewegung "hinzu". Gemäß der weiter oben vorgestellten dynamisierten Form der trinitären Einheit (12), könnte der dualistische, statische, religiöse Gottesbegriff zum dynamischen, monistischen mutieren: und zwar im Sinne der Voraussetzungsproblematik mit ihrem als Werden zu verstehenden Umschlag von Möglichem ins Wirkliche (13).
(15) Der bislang "existierende", "ewige" Gott wird zum möglichen, voraussetzenden Selbst, das sich in selbstbewußten Identitäten (=Ichen) verwirklicht.
In den Religionen geschieht diese Transformation nicht. Gott bleibt, was er ist: der Welt entgegengesetzt. Demgegenüber wird im trinitären Monismus sofort einsichtig, warum es der Welt bedarf16): und zwar nicht einer Welt aus einem spontanen Schöpfungsakt, sondern einer Welt beständigen (=transfinit ewigen) Werdens: Genauso wie jedes Ich sein Außen und sein Innen zur Aufrechterhaltung seiner Funktion benötigt, bedarf die Möglichkeit der Identität (=Selbst) zu ihrer Verwirklichung der Welt (=des Universums), um sich als Vielzahl von Selbstbewußtseinen konkretisieren zu können. In monistischer Sicht steht die Metapher "Gott" für das beständige Werden von Welt und Selbstbewußtsein(en). "Gott" als ein von der Welt losgelöster existiert nicht, die Trennung zwischen Gott und Welt ist überwunden. Gottes "Ebenbild" als die Identität eines konkreten Selbstbewußtseins ist die Verwirklichung des obsolet gewordenen toten statischen Gottes.
(16) Der Gott der Religionen ist tot - aber er ist als Identität des Selbstbewußtseins auferstanden.17)
Auch in religiöser (und damit unphilosophischer) Diktion bleibt Gott nach seinem Schöpfungsakt kein statisches Selbst, sondern wird durch seine Schöpfung zu einem "zornigen", "eifersüchtigen", "rächenden" Ich18), das laut Altem Testament sogar einen Bund mit "seinem" "auserwähltem" Volk schließt - eine quasi-faschistoide Metapher für die Weltabhängigkeit einer jeden Identität, auch jener Gottes.
So gesehen ist das phantastische Strickmuster des Schöpfungsmythos trotz falscher Prämissen nicht einmal alogisch, da es den notwendigen Umschlag von Voraussetzendem (Selbst, Einem, Qualität) in Vorausgesetztes (Welt, Vieles, Quantität) zumindest in mythischer Verbrämung einhält. Falsch (widersprüchlich) bleibt das Konstrukt dennoch, da es den Grenzbegriffen des Selbst und des Nichts eigene Existenz (als "Gott" und "Welt") zuspricht.19)
Ichüberwindung oder Satori
Die östliche Philosophie, vor allem der Zen-Buddhismus, aber auch die westliche Mystik kennen das Phänomen der Ichüberwindung bzw. der Versenkung oder Meditation. Was immer das ist - es ist nichts, das über die Vernunft eingesehen werden kann; vielmehr ist es ihr Wesen(tliches), die Vernunft zu transzendieren, die Subjekt-Objekt-Relation aufzuheben, die Dualität zwischen Erkennendem und Erkanntem zu überwinden. Auch tritt in allen Versenkungslehren immer wieder der Begriff des Selbst als Ziel der gelungenen Ichüberwindung auf. Das Ich soll nicht mehr als Zentrum des Erlebens fungieren, sondern Ziel ist es, mit dem zu Erkennenden eins zu werden, es selbst zu sein. Meditation ist in diesem Sinne Vereinigungstendenz.
Inhalte von Meditationen können daher nicht mitgeteilt werden, da jede Aussage im Dualismus von Aussagendem (Subjekt) und Ausgesagtem (Prädikat oder Erlebten) steht. Eine Aussage fällt also stets in die klassische dualistische Weltsicht zurück, gelungene Meditation hingegen hat den Dualismus von Subjekt und Objekt überwunden, die Verschmelzung (Einswerden) von Meditierendem und Meditationsziel ist vollzogen.
Philosophie- und Religionsgeschichte sind voll mit Hinweisen auf solche transrationale respektive transzendente Zustände von "Heiligen", "Erleuchteten", "Verklärten", "Auferstandenen", "Entrückten" etc. Die Frage nach einer Erklärung solcher Zustände drängt sich auf.20)
Sie kann nur trinitär-monistisch erfolgen, da solche Erfahrungen ja per se nicht-dualistisch sind, deren Wesen mit vernünftigen (=dualistischen) Methoden nicht erkannt werden kann. Koans zeigen dies sehr schön: Es handelt sich dabei um vernunftwidrige (widersprüchliche) Sätze, mit denen die Vernunft ad absurdum geführt und der nach der Lösung Suchende aus seinem Vernunftdenken hinausgezwungen werden soll. Beispiele für Koans wären: Wie lautet das Geräusch einer klatschenden Hand? Oder: Wo ist die Faust, wenn die Hand geöffnet ist?
Wir haben weiter oben festgehalten, daß Selbst und Ich zwei unterschiedliche Begriffe ein und desselben Phänomens sind, nämlich der elementaren Einheit der bewußten Identität, und haben Selbst und Ich als durch die Voraussetzungsproblematik vereinheitlicht erkannt (11), (12), (13). Andererseits ist uns bewußt geworden, daß die Funktion des Ich im Zentripetieren von Eindrücken besteht - eine Tätigkeit, die gerade in der Mystik und in östlichen Philosophien durch Versenkungspraktiken überwunden werden soll. Wird das Bewußtsein durch meditative Praktiken gegen Außenreize, aber auch gegen Gedanken und Begierden immunisiert, wird die Funktion des Zentripetierens (also des Ich) ihrer üblichen Inhalte entleert.
Im dualistischen (=rational-logischen) Denken tritt nun tatsächlich ein Widerspruch auf: Frei nach Kant ist ja Anschauung ohne Inhalte blind und sind Inhalte ohne Anschauung leer. Umgelegt auf die Meditation bedeutet das: Wenn nichts da ist, das fokussiert werden soll, ist auch das Zentrum kein Brennpunkt mehr. (Wir haben oben das Beispiel eines Mittelpunktes ohne Kreis bzw. eines Kreises ohne Mittelpunkt gewählt.) Im Rahmen der Voraussetzungsproblematik des trinitären Monismus stellt hingegen das Zentrum als Voraussetzendes die Möglichkeit des Auf-sich-Rekurrieren (=Selbst) dar, während das aktuale Auf-sich-Rekurrieren (=Ich) als Vorausgesetztes die Konkretisierung dieses möglichen Vorgangs bedeutet. Dabei besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen Sich-auf-sich-Beziehen (=bewußte Identität oder Selbsterkenntnis) und Anderes-auf-sich-Beziehen (="bloße" Erfahrung oder Erkenntnis des Objektiven). Bestünde diese Differenz nicht, verlöre der Selbstbezug seine Qualität als von allem anderen geschiedene bewußte Identität und damit jede Möglichkeit, sich als ein Ich gegen anderes abzugrenzen: Gäbe es nicht auch anderes, wäre das Ich nicht selbst.21)
Ichüberwindung (besser: Ichentleerung) ist demnach ein Vorgang oder eine Technik, auf anderes (hinduistisch: Maya, buddhistisch: Trishna) nicht mehr zu achten und sich nur auf sich zu konzentrieren und selbst zu sein.
(17) Der Selbstbezug wird zum all-ein(ig)en Inhalt der Meditation
(=Nirwana)
Dieser Zustand des Nirwana ist die einzige Möglichkeit des Selbstbewußtseins, die letzte, undefinierbare Realität, die "hinter" dem Lila der Hindi (Brahman), und die "hinter" dem Karma der Buddhisten (Dharmakaya) steht, zu erleben (= sie zu sein), mit ihr zur letzten Einheit zu verschmelzen22) und ist nicht mehr beschreibbar (=mitteilbar).
Diese(r) Grenzbegriff(e) bzw. Grenzzustand entspricht den oben beschriebenen Begriffen der Erleuchtung, Verklärung, Entrückung, (zenbuddhistisch: Satori) und sollte auch mit dem christlichen Begriff der Auferstehung zu tun haben.
Praktisch (zugegebenermaßen sehr selten) auch für den Nicht-Heiligen erlebbar ist dieser Zustand als Glück: Man spricht dann von ihm, wenn der es Erlebende aus seinem gewohnten Raum-Zeit-Rahmen heraustritt und nur mehr ist: "Dem Glücklichen schlägt keine Stunde!"
Der Tod
Eng mit dem Ich bzw. dem Selbst hängt auch das Phänomen des Todes zusammen. Nur wer sich seiner Einmaligkeit als beständig verändernde (=Lebensgeschichte), damit aber auch endliches und dennoch gleichbleibendes (identische) Ich (=Person)23) bewußt ist, weiß um die Endlichkeit seiner Veränderlichkeit: die prinzipiell endende Dauer seines Lebens, seinen Tod. Nur wer das Unveränderliche des Menschen, seine Identität nicht als eigenes, d. h. "neben" dem Körper Existierendes ("Seele") mißversteht, weiß, daß eine Funktion (ein System) nur solange wirkt, als die dazu nötigen raumzeitlichen Komponenten systemkonform zusammenspielen (="funktionieren"). Mit dem Versagen der Sinnenfenster ("Außen") respektive der Antriebe, Interessen, Gefühle etc. ("Innen") erlischt die Funktion des Zentripetierens, endet mit dem Eintritt des Todes das permanente Werden von Qualität (Selbst) zu Quantität (Ich).
Absurd daher jeder Glaube an ein "Weiterleben" im Sinne von nicht endender Identität. So richtig es ist, Identität, weil Qualität, als nicht dem Veränderlichen zugehörig (also nicht der Zeit unterworfen) zu verstehen, so falsch ist es, daraus "ewiges Leben" abzuleiten.24) Wer die Identität als Seele so "versteht", wie sie Wilhelm Busch in seiner "Frommen Helene" zeichnet, wo die Teufelchen mit Dreizack am Rauchfang auf die durch den Schlot entfleuchende Seele Helenchens warten, dem ist wahrlich nicht zu helfen...
Resumé:
(1) Das Ich unterscheidet sich als dieses Rückbezügliche von allem anderen.
(2) Punkte existieren gar nicht: Sie sind bloße Abstraktionen des menschlichen Geistes.
(3) Das Ich ist die Art und Weise, wie sich das Selbstbewußtsein verwirklicht, oder
(4) Das Ich ist die Funktion des Rückbezugs des Selbstbewußtseins bzw.
(5) Das Ich ist das Voraussetzende des Selbstbewußtseins.
(6) Das Gleiche aller Menschen liegt im unterschiedslos zentripetalen Selbstverständnis eines jeden.
(7) Unter Bewußtsein verstehen wir jene Fähigkeit eines Organismus, auf veränderte Umwelteinflüsse veränderbar (=lernend) zu reagieren.
(8) Ich bin, der ich bin, oder verkürzt: (9) Ich [1] bin [2] ich [3] sind Ausdrücke einer elementaren Einheit.
(10) Elementare Einheiten sind nur sie selbst und aus nichts anderem mehr zusammengesetzt
(11) Das Selbst ist (wirklich nur) als Ich, oder, wenn das Werden ausgedrückt werden soll: (12) Das Selbst [1] wird (wirklich) [2] (nur) als Ich [3]
(13) Das Selbst ist die abstrakte Qualität der Identität als bloße Möglichkeit, ein Ich seine quantifizierte Konkretisierung.
(14) (Nichts) - unbewußt Seiendes - bewußt Seiendes - selbstbewußt Seiendes - (Selbst) können in dieser Form als aufsteigende (evolvierende) Gliederung angesehen werden.
(15) Der (im religiösen Denken) bislang "existierende", "ewige" Gott wird zum möglichen, voraussetzenden Selbst, das sich in selbstbewußten Identitäten (=Ichen) verwirklicht.
(16) Der Gott der Religion ist tot - aber er ist als Identität des Selbstbewußtseins auferstanden..
(17) Der Selbstbezug wird zum all-ein(ig)em Inhalt der Meditation (=Nirwana)
Fußnoten
1) Wenn es sich um Phänomene des "Innen" des Menschen handelt, also um Gefühle, Triebe, das Denken, Interessen etc (das Bewußtsein im allgemeinen), ist es mit der Eindeutigkeit der Bestimmbarkeit nicht weit her. Psychologie als (exakte) Wissenschaft zu bezeichnen ist jedenfalls kühn!
2) In der modernen Naturwissenschaft treten solche Schwierigkeiten auch bei der Vorstellbarkeit von Elementarteilchen, Energie, Kräften, dem Raum und der Zeit auf, alles unanschauliche Phänomene, die die Raumzeit ausmachen, ja, diese erst konstituieren. Siehe auch Conturen I/94, Seite 72 ff, "Selbst, Sein und Existenz"
3) Diese Nicht-Vorstellbarkeit ist ein gravierendes Problem der Elementarteilchenphysik: Wie hat man sich z. B. ein Elektron "vorzustellen"? Gar nicht! Es ist kein unterscheidbares einzelnes!
4) Es gilt dies für alle elementaren Größen bzw. für alle Elementarteilchen: ein Gramm ist immer ununterschiedlich ein Gramm. Jedes Elektron (oder Photon) gleicht dem anderen. Auch Ladungen werden in der Physik als "punktförmig" bezeichnet.
Frei nach Virchow könnte man argumentieren, noch kein Pathologe habe beim Sezieren je ein Ich gefunden, und daher gibt es auch keines. Es hat freilich auch noch nie ein Elektroniker in einem Computer ein Programm oder ein Elektriker in einem TV-Apparat oder auf einem Tonband Bruckners Requiem gefunden - auch wenn er es knapp davor noch im Fernsehapparat oder von der Kasette gehört hat.
5) Zentripetales Verrechnen ist nicht zu verwechseln mit Egoismus. Unter ihm versteht man überstiegenes Rekurrieren auf das Es nach dem Freudschen Persönlichkeitsmodell. Das Gegenteil wäre der Altruismus, der völlig auf das Überich rekurriert. Anzustrebende Ichstärke zeichnet sich hingegen durch ausgewogenes Balancieren zwischen Überich und Es aus ("gesundes Selbstbewußtsein" bzw. "Nächstenliebe" respektive Humanismus). Der totale Altruist wäre lebensunfähig, der totale Egoist schlösse sich aus jeder Gemeinschaft aus.
6) Der Autor erinnert sich an seinen Kakadu, den er einige Jahre hindurch als Haustier hielt, und der sich offenbar im Spiegel selbst erkannte. Dies dürfte ihm allerdings erleichtert worden sein, indem er sein Spiegelbild als auf der Schulter des Autors sitzend erlernte. Vielleicht ist diese Denkleistung des Vogels aber eine sogar noch komplexere gewesen, als er nämlich "schloß", daß, wenn schon sein Herrl doppelt erschien, er dasselbe auch von sich erwarten durfte.
7) Unmittelbar meint, daß es keines zusätzlichen Mittels oder keiner hinzukommenden Instanz bedarf, um auf sich selbst zu rekurrieren, dies also spontan und unmittelbar erfolgt.
8) Die Antwort Gottes auf Moses Frage nach Gottes Namen, in Exodus (2. Mose) 3,14. Je nach Übersetzung auch: "Ich werde sein, der ich sein werde" oder "Ich bin, der da ist."
9) Die Zahlen in den eckigen Klammern sollen auf die drei Terme (Trinität oder Dreiheit) dieser nicht weiter zerlegbaren Aussage (Einheit) hinweisen: auf die Dreiheit der Einheit.
10) Es kommt solche Unveränderlichkeit (="Ewigkeit") im dualistisch-religiösem Denken nur "Gott" zu.
11) Im Glaubensgebäude des Christentum wird dieses untrennbare Werden (=Akt) von statischer (=ewiger) voraussetzender Qualität (die Möglichkeit des Selbst) und dynamischer vorausgesetzter Quantität (die Wirklichkeit eines Ich) in "Gott" (=Qualität des Einen als Identität) und "Seele" (Quantität des Vielen als Individualität) aufgesplittet: mit all den sich daraus fatal ergebenden Konsequenzen von "Himmel" (=Metapher für das Eine) und "Hölle" (=Metapher für das Viele) respektive von "Jenseits" und "Diesseits", "Erlösung" und "Verworfenheit" etc.
12) Heidegger: "Das Nichts nichtet" - es kann nämlich nicht einmal sein, geschweige denn da- (oder irgendwo) sein.
13) Letzteres zeigt, daß Religionen immer dualistisch (weltverdoppelnd) und nicht monistisch (es gibt nur die eine, ungeteilte Welt als All-Eines bzw. Ein-Alles) vorgehen und definitorisch verbotene Trennungen durchführen: In religiöser Vorstellung "existiert" Gott auch ohne Welt: nämlich "ewig" und "schon" "vor" der Schöpfung - alles, in dieser Kombination, begriffliche Absurditäten.
14) Es ist dies nur ein bizarres Gedankenspiel, da die solcherart verknüpften Begriffe absurd werden. "Absolut" bedeutet, von allem Konkreten abgelöst (lat.: absolvere = loslösen) zu sein. Ergo kann Absolutes nicht existieren, da "existieren" nur Konkretes, einzelnes kann: und zwar als dieses hier und jetzt (Hegel).
15) Auch das ist absurd: Um auf sich rekurrieren zu können, bedarf es - siehe oben - der Differenz zwischen einzelnem, vielem und der Funktion des Zentripetierens.
16) Die älteste philosophische Frage lautet: Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?
17) Wir verwenden den christlichen Begriff hier absichtlich, um einen Denkanstoß zu liefern, wie das Phänomen der Auferstehung philosophisch interpretiert werden könnte. Es ist ja nicht auszuschließen, daß die Ursprünge von Hochreligionen auf tiefe philosophische Wahrheiten zurückgeführt werden könnten.
18) "Ich bin, der ich bin."
19) Grenzbegriffe wie das Selbst oder das Nichts sind Konstrukte, denen aber außerhalb der Gedankenwelt keinerlei Existenz zukommt. Im Konstrukt des Schöpfungsmythos wird dem Nichts aber explizit Existenz zugesprochen, indem "aus ihm" durch den Schöpfungsakt Gottes die Welt konkretisiert wird - ein theologischer Unfug, da aus "Nichts nichts werden kann". Obwohl in dieser Formulierung ein alter Kalauer, ist dieser voll tiefer philosophischer Reife: "Werden" ist die spezifische Art und Weise der Existenz: Existierendes ist nur als Werdendes! Es kann das Werden aber nicht selber werden, sondern muß als Qualität unveränderlich sein - nämlich ewig! Denselben Fehler macht überdies das Urknallmodell, das die Welt ebenfalls aus einem Grenzbegriff, der Singularität des Urknalls, "entstehen" läßt. (Siehe auch Wissenschaftliche Nachrichten 104, April 1997, Seite 4 f: "Existenz und Kausalität oder Quantität und Qualität".)
20) Erklärungen stehen immer in dualistischer Spannung von Subjekt und Objekt: Ein Subjekt (Forscher, Wissender) versucht, eine bereits vorhandene und bewährte oder eine neue Theorie (ein Modell) einem bisher unverstandenen Phänomen anzupassen. Gelingt es, ist die Erklärung (=Erkenntnis) brauchbar. Mißlingt es, muß nach einem anderen Modell (=Theorie) gesucht bzw. muß die vorhandene Theorie modifiziert werden. Es ist dies die übliche Art und Weise, wir Fortschritt zustandekommt: im Fortschreiten vom Alten, nicht mehr Bewährten zu Neuem, sich erst Bewährendem. Während die Naturwissenschaft auf Überprüfungen (=Experimente) zurückgreifen kann, muß sich die Philosophie auf Widerspruchsfreiheit, richtiges Schließen und Evidenz (Gewißheit aus sich selbst) beschränken.
21) siehe auch CONTUREN 1/94, S 67: "Selbst, Sein und Existenz"
22) Ausdrücke dafür sind auch "Schau" (etwa: "Gottesschau") oder "Einswerdung". Fallen alle Unterschiede des bzw. zum anderen weg, bleibt ununterschieden Eines: Alle Identitäten verschmelzen zu einer (="Gott").
23) vom lat. persona = Maske; das Unveränderliche im Menschen, sein Ich, bleibt hinter der alleine sichtbaren Maske seines Tuns verborgen. Man sollte meinen, daß der Schöpfung des Begriffes "Person" die obigen Überlegungen - zumindest ansatzweise - vorangegangen sind: daß das Ich des Menschen nämlich niemals erkennbar ist!
24) "Ewig" hat mehrere Bedeutungen: nicht- bzw. außerzeitlich, also der Zeitmessung prinzipiell nicht zugänglich (lat. aeternitas); dazu zählt im Prinzip alles Nicht-Dingliche (z. B. der Raum), alles Nicht-Vereinzelte (z. B. Qualitäten), alles Nicht-Endliche (z. B. Bewußtsein), alle (Allgemein-)Begriffe (z. B. "die Menschheit"), alle Konstrukte (z. B. die Zeit), alles Nicht-Reale (u. a. Phantasien, Mythen etc). Sehr oft wird (oberflächlich und im Prinzip fälschlich) Unendlichkeit als infinite Ewigkeit bezeichnet (lat. sempiternitas): etwas beginnt und hört nicht mehr auf zu existieren (=unaufhörliche Dauer). Das sogenannte "ewige Leben" oder der Streit, ob die Welt "ewig" weiterbesteht oder im "Big Crunch" wieder in sich zusammenstürzt, fallen unter den Begriff der infiniten Ewigkeit. Er ist widersprüchlich (weil außerhalb aller Erfahrung: alles, was beginnt, endet ja wieder), aber zumindest noch quasi-vorstellbar aufgrund einer List unseres Bewußtsein: Obwohl wir wissen, daß alles endlich ist, weigern wir uns, dies für unsere Praxis zu akzeptieren. Alles, was wir schaffen, soll ohne Ende fortbestehen. Wir denken selten an das Ende von etwas. Vor allem jüngere Menschen weigern sich, an den eigenen Tod zu glauben und handeln so, als lebten sie immerfort: Alle wollen alt werden, aber niemand will alt sein!). Noch schwerer vollziehbar ist der Begriff der transfiniten Ewigkeit: Er meint etwas, das nie begonnen hat, sehr wohl existiert, aber nie enden wird. Auch dies widerspricht jeder Erfahrung, wird von uns aber zwei Phänomenen dennoch zugeschrieben: der Welt im Monismus - und "Gott" in der Religion.