WIE VERNÜNFTIG IST DIE VERNUNFT?

von Univ.-Lektor Prof. Mag. Dr. Walter W. Weiss

TEIL I: DIE VERNUNFT

Unbestritten dürfte sein, daß es die Vernunft ist, die den Menschen zum Menschen macht - zumindest gilt solches im westlichen Kulturkreis, wo sich seit der griechischen Philosophie der Mensch als animal rationale, als vernunftbegabtes Lebewesen vom nicht-vernünftigen, also dem Tier unterscheidet. Diese herausragende Eigenschaft des Menschen gilt freilich nur dem Abendländer als die wesentlich(st)e Unterscheidung zum Tierreich. Im östlichen Denken ist es vielmehr das Selbst, das den Menschen aus der Schöpfung herausragen läßt, wobei die Frage nach dem Selbst genauso kniffelig zu sein scheint, wie jene nach dem Wesen der Vernunft. Angesichts des offensichtlich zunehmenden Maßes an Unvernünfigkeit innerhalb des menschlichen Handelns stellt sich dem aufgeklärten Denker in der Nachfolge Aristoteles' die Frage, ob die Vernunft tatsächlich dasjenige sei, auf das der Mensch sich am meisten einbilden dürfe. Denn ganz offensichtlich besteht eine große Diskrepanz zwischen Vernunft und vernünftig. Man denke nur an Probleme wie Übervölkerung, Ozonloch, Saurer Regen, Overkill, etc.

Der Begriff der Vernunft ist nicht eindeutig. So lehnt das Christentum die Vernunft als - bringt man es auf den Punkt - "teuflisch" und dem Schöpfungsplan Gottes entgegenwirkend ab (Erbsünde als Folge des Essens vom Baum der Erkenntnis; historische Wissenschaftsfeindlichkeit der Kirche) und stellt den Glauben eindeutig v o r das Vermögen des analytischen Denkens. Aber auch innerhalb der europäischen Philosophia perennis, also des fortwährenden Ganges des philosophischen Denkens über die Zeiten, wird der Vernunftsbegriff widersprüchlich definiert:

Dictio: Die Vernunft ist das Prinzip, nach dem die Welt (die Natur) aufgebaut ist und nach deren Regeln alle Prozesse inner- (aber auch: außer-)weltlich ablaufen. Die Anwendung der Vernunft garantiert dem Menschen, die Welt in ihrer Widersprüchlichkeit so verstehen und technisch manipulieren zu können.

Contradictio: Die Vernunft ist d a s spezifisch menschliche Vermögen, die Welt so zu interpretieren, daß sie für den Menschen als widersprüchliche faß- und als widerspruchsfreie manipulierbar wird.

Conclusio: Als dritte - vermittelnde - Position könnte gelten: Die Vernunft ist e i n e s der spezifisch menschlichen Vermögen, die Welt zu interpretieren; und zwar jenes, das sie über das Auflösen ihrer scheinbaren Widersprüche für den Menschen faß und manipulierbar macht.

Weltvernunft ja oder nein?

Die erste Position ist die des Aristoteles und all jener Denker, die ihm darin nachfolgen. Sie gipfelt in der französischen Aufklärung (Descartes: Cogito, ergo sum Voltaire; das Erhöhen der Vernunft zum quasi Gott-Ersatz) und führt in den Deutschen Idealismus mit dessen Geistesgiganten Immanuel Kant und G. W. F. Hegel. In ihrer negativen Ausprägung leitet sie über den Marxismus und die totale Machbarkeit der Welt zur Position der heutigen Naturwissenschaft mit ihrem Anspruch Anything goes. Das moderne starke und schwache anthropische Prinzip 1) und - mit Einschränkungen! - auch die Evolutionäre Erkenntnistheorie bringen diese Position auf den Punkt: Der Mensch ist quasi als "Krönung der Schöpfung" nur letztes Glied einer Entwicklung (der Evolution nämlich), als das er - im Sinne des anthropischen Prinzips - das Werden der Welt würdig abschließt. Im Sinne der Evolutionären Erkenntnistheorie hat sich das Verrechnungssystem Vernunft des Menschen "nur" an die vorgefundenen Zustände in der Natur optimal angepaßt. Die Vernunft sichert als bestmögliche Ausstattung der Spezies Homo sapiens deren Überdauern und den individuellen Menschen - zumindest auf die Dauer einer durchschnittlichen Lebenszeit - Überleben.

Die Position 2 ist jene des Existenzialismus und der Chaostheorie und findet sich mit Sokrates und einigen Sophisten bis herauf zu Erich Fromm und Viktor Frankl. Der Mensch sieht die Welt erst durch die Brille seiner Vernunft so, daß der Kosmos ihm vernunftdurchwaltet erscheint. Die Welt selbst ist - mit Ausnahme der im Menschen wirkenden - ohne Vernunft; es herrscht nicht Kosmos sondern Chaos. Das Vernunft-Haben des Menschen ist in dieser Sicht nur eine von vielen Möglichkeiten der Evolution. Sie hätte auch nicht passieren können.

Wir müssen untersuchen, ob die Bedingungen der Vernunft diese überhaupt in die Lage versetzen, allgemeingültige und über unser unmittelbares Erfahren hinausgehende Aussagen treffen zu können. Dabei wollen wir unter allgemeingültigen Aussagen solche verstehen, die über den nahen räumlichen und zeitlichen Bereich, den wir mit unserer Vernunft letztlich nur mehr oder weniger befriedigend bewältigen können, hinausweisen. Denn sinnvoll ("vernünftig") umgehen mit unserer Vernunft können wir ja ohnedies nur innerhalb eines für uns praktisch beeinflußbaren Rahmens. Weiter als einige Tage vorauszuplanen (und dabei mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten, daß auch eintritt was wir vorhaben!) vermögen wir faktisch nicht. Ebensowenig sind wir in der Lage weitere Räume als unsere nächste Umgebung, also Wohnung, Haus, Gut, unsere kleine Firma etwa, befriedigend zu überschauen und ihre Probleme sinnvoll zu bewältigen. Alles weiter darüber Hinausgehende sinkt in seiner Prognostizierbarkeit weit unter die 50 % Wahrscheinlichkeitsmarke, ist also eher blindes Hoffen als zielstrebiges Handeln. Die Nicht-Prognostizierbarkeit von Politik und Wirtschaft, auch die Kurzlebigkeit wissenschaftlicher Theorien, beweisen unseren Ansatz.

Diese Einschränkungen nimmt der abendländische Geist allerdings nicht gerne hin: Sind wir doch als Kinder der Aufklärung (und der aristotelischen Logik) gewohnt, a l l- e s mit unserer Vernunft zu untersuchen und zu bewerten. Die Anwendung der Mathematik als Paradebeispiel "reinster Vernunft" bei fast allen Problemen ( Einstein: "Gott würfelt nicht") weist darauf hin.

Die zehn Gebote der Vernunft

Die Methode der Vernunft ist die Negation - sie ist "der Geist, der stets verneint" (Faust). Vernunft räumt Widersprüche aus, negiert also eine von zwei Tatsachen und schafft damit beständig neue Widersprüche. In diesem permanenten Negieren von Zuständen ist sie jenes Vermögen des Menschen, das sich im Laufe seiner Evolution über Anpassung, Versuch und Irrtum, Selektion und Erfahrung als bewährtes Mittel für das tägliche Überleben innerhalb des praktischen Lebensraumes der einzelnen Kreatur und seiner Gruppe herausgebildet hat. Den daraus resultierenden technischen Erfolg im Zuge der Anpassung -auch der Natur an den Menschen - nennt man Fortschritt. Die Vernunft geht dabei folgendermaßen vor:

1) Die Methode der Vernunft ist die Analyse, das Zerteilen des Ganzen (=EINEN) in beobachtbare und verstandesmäßig faßbare Ausschnitte. Das spätere Zusammensetzen zu einem Wieder-Ganzen (Synthese) macht dagegen logische Schwierigkeiten: Weil mathematisch (also totalabstraktiv) das Ganze nur die Summe seiner Teile sein kann. Aus unserem nicht-rationalen Erfahrungwissen wir aber, daß das Ganze (ein System) stets mehr ist, als die Summe seiner Teile! (Eine Gruppe benimmt sich anders, als sich die fünf Gruppenmitglieder einzeln benehmen würden!)

2) Eine Analyse sucht nach Antworten auf ein Warum, nach einer Erklärung für ein Phänomen. Dem vorausgesetzt ist ein Weltbild, das nach Erklärungen fragt und die Ereignisse (die Welt) nicht als bloß gegeben annimmt, die Einheit (das Sosein) der Welt also negiert.

3) Eine Analyse muß stets raum-zeitlichen Inhalt haben, also Ereignisse betreffen, die in die Raumzeit eingebettet oder einbettbar sind. Anderes ist nicht analysierbar, wie z. B. Liebe, Glaube, Hoffnung, Vertrauen, aber auch jede Meditation sind es nicht.

4) Analysen folgen kausalen Verknüpfungen. Von einem Ereignis wird im vernunftvollen Denken immer nach einer Ursache geforscht, bzw. wird von einem Ereignis aus der Erfahrung auf eine erwartete Wirkung induziert.2)

5) Handlungen innerhalb der Vernunft enthalten stets eine finale Komponente, sind also zweckgerichtet. Ohne Ziel (oder Absicht) ist eine Operation ohne Vernunft. Die Gegenposition dazu wäre (und steht damit auch außerhalb der Vernunft) die Aussage: Der Weg ist das Ziel. Diese Aussage verletzt das 2. logische Axiom, weil Weg und Ziel in der Logik kontradiktorische Begriffe sind (siehe nächster Punkt).

6) Ein vernunftvoller Gedanke muß logisch sein: Er darf keinem der vier Axiome der zweiwertigen (!) Logik widersprechen. Und diese Axiome lauten:

a) Etwas muß mit sich identisch sein (A=A)

b) Etwas kann nicht gleichzeitig etwas anderes sein (A non est B)

c) Eine Aussage kann gleichzeitig nur wahr oder falsch sein, eine dritte Möglichkeit gibt es nicht (tertium non datur)

d) Eine Aussage muß einen zureichenden Grund haben

7) Vernunftvolles muß daher stets eine Aussage sein, d. h. ein Subjekt sagt über ein Objekt etwas aus (Prädikat). Ohne diese Subjekt-Objekt-Trennung ist ein Gedanke außerhalb der Vernunft (was z. B. für jede meditative Erfahrung, aber auch für Akte des Glaubens, Hoffens, Liebens und/oder Vertrauens gilt!)

8) Eine vernunftvolle Aussage muß mitteilbar, also intersubjektiv sein (meditative "Inhalte" sind dies nicht). Dazu bedarf es kommensurabler Systeme, wie Sprache, Gestik, Mimik etc. und kommunizierbarer Systeme, egal welchen Abstraktionsgrades (vom Rauchzeichen bis zu Bits und Bytes).

9) Vernunftvolle Aussagen müssen nach- oder überprüfbar sein. Dazu bedarf es Konventionen, was gilt und was nicht. Alle Experimente fallen unter diesen Voraussetzungspunkt. Hierher gehört auch Poppers Falsifikationstheorem, nach dem eine Hypothese (eine Theorie) nur dann als wissenschaftlich (und somit als vernunftdurchwoben) gilt, wenn sie auch falsifizierbar (also experimentell widerlegbar) ist.

10) Aussagen mit Vernunftanspruch müssen Voraussagen ermöglichen. Ohne Prognostizierbarkeit kein Wirken von Vernunft. In diesem Punkt liegt abermals die die Vernunft an ihre Grenzen verweisende Problematik der Induktion vergraben wie der sprichwörtliche Hund. Paranormale (ASW- oder PSI-)Phänomene sind z. B. n i c h t beliebig wiederholbar; ihr abermaliges Eintreffen ist n i c h t prognostizierbar. So lassen sich Telepathie- und Hellseheffekte nicht beliebig abrufen und gezielt einsetzen!

Dieses Zehnpunkteprogamm zeigt, daß die Vernunft in dieser Bestimmung natürlich nicht welt-konstituierend, sondern nur mensch-konstituierend ist. Vor allem über die Kausalität, die Finalität, die Logik und die Raumzeit läßt sich das widerspruchsfrei einsehen.

Die Kausalität

Ursachen werden nicht erfahren, sondern konstruiert. Ursachen bestehen nicht losgelöst vom wertenden und auswählenden Bewußtsein, sondern werden von diesem geschaffen. In der naturwissenschaftlichen Sprache bedeutet dies, daß der Forscher eine Ursache vermutet und über sein gewähltes Modell (seine Theorie) experimentell untersucht, ob diese Ursache mit der Natur im Einklang steht. (Es ist die Quintessenz der kopernikanischen Wende Kantens, der in seiner "Kritik der reinen Vernunft" die Forderung erhebt, die Natur mit Hilfe unserer Vernunft zu nötigen, auf unsere Fragen zu antworten.) Ursachen sind also stets Entwürfe unseres Bewußtsein, mit denen wir je nach unserem finalen Anliegen in den Fluß des Notwendigen (in das natürliche Geschehen) Zäsuren ritzen, an denen wir eine Kausalkette beginnen bzw. enden lassen.

Der Interpretationsmodus der Kausalität sei an einem Experiment erläutert: Ich halte ein Stück Kreide mit zwei Fingern über einer Tischplatte und lasse das Kreidestück fallen. Der vernunftvolle, durch seine Erfahrung gewiefte Beobachter wird wissen: Weil ich die Finger öffne, fällt das Kreidestück hinunter. Gesehen wird dieses "weil" nicht. Was gesehen wird ist folgendes: Weiss hält die Finger geschlossen - Weiss öfffnet seine Finger - das Kreidestück fällt zu Boden. Der Beobachter sieht eine (zeitliche) Auf-einanderfolge, nicht aber eine (logische) Aus-einanderfolge. Erst das Anwenden und Verknüpfen zweier Vernunftsmodi (den Modus des Raum-Zeitlichen mit der Schlußlogik) ergibt die kausale Ursache-Wirkungs-Abfolge. Fazit: Aus Beobachtung kann Kausalität nicht abgeleitet werden; sie ist ein Vernunftsmodus, der uns - nach Kant, aber auch nach Rupert Riedl - a priori mitgegeben ist.

Kausalität ist immer zeitgerichtet und primär eindimensional. Erst in Verbindung mit Finalität, also mit unseren - durchaus willkürlich gewählten! - Zielen, wirkt die kausal erwartete Wirkung sekundär auf die kausal bestimmte Ursache zurück. Beispiel: Das Ziel (final) eines Gymnasiasten ist die Matura. Um dieses Ziel (auch: Zweck, telos) zu erreichen muß der Schüler eine ganze Reihe kausaler Ursache-Wirkungs-Ketten durchlaufen: Er muß lernen (Ursache), um bei der Prüfung (Wirkung) durchzukommen. Weil er aber weiß (sic!), daß er ohne bestandene Prüfungen (Wirkungen) nicht zur Matura (Telos, Ziel) kommen wird, wirkt dieses Ziel auf die Ursachen (das Lernen) zurück: Ist es einem Schüler mit der Matura ernst, wird er ausreichend lernen.

Die Finalität

Es ist kühn, die Kausalität zum Weltprinzip zu erheben, wie es Karl Marx mit der Dialektik macht, die in ihrer Abfolge These - Antithese - Synthese ja nichts anderes ist als ein großräumig angewandter Kausalitätsentwurf mit Finalitätsaspekt! Ziele und Zwecke sind nicht objektivierbar. Der Lauf der Menschheitsgeschichte ist der praktische Beweis, wie Ziele (Interessen) und Zwecke (Intentionen, Machtansprüche, etc.) von Staaten einander widersprechen. Es gibt nur subjektive Ziele. Ihre Verwirklichung auf der Basis der - meist erzwungenen - Intersubjektivität ist der Grundtenor jeder Politik, von der Despotie bis zur Basisdemokratie. Was wechselt, ist nur die Methode der "Einigung", sei es via Willkür und Terror (Absolutismus, Tyrranei) oder über das Abstimmungsritual einer parlamentarischen Demokratie (Kompromiß). Nur die freiwillige Einigung in Liebe (Konsens) fällt aus diesem Schema: Konsens und Liebe sind jenseits der Vernunft.

Die Natur hat keine Ziele, keine Interesse, keine Zwecke. Nur wenn wir solche sehen wollen, sehen wir sie (vergleiche auch "Conturen", III/9, S 9, Heinz-Otto Peitgen: "Wenn ich ... an Ordnung interessiert bin, dann suche ich ... Phänomene, in denen Ordnungseigenschaften ... erkennbar sind ... Wenn ich ein Auge für chaotische Phänomene entwickle, dann scheint die ganze Natur mehr vom Chaos bestimmt zu sein.") Sinngleiches würde auch für die Natur vulgo "Gott" gelten, was immer man unter letzterem Begriff verstehen mag. Eines verfolgt "er" ("sie", ES) sicherlich nicht: Ziele, Interessen, Zwecke. Diese sind menschliche Antriebe, die aufs Überleben des einzelnen (und/oder der Art) gerichtet sind. Die Natur oder "Gott" braucht bekanntlich nicht zu "überleben", letzterer gilt sogar als ewig.3)

Die Logik

Die Logik ist laut Aristoteles ein Werkzeug (organon) der Vernunft. Mit ihrer Hilfe stellt sie gültige ("wahre") Verknüpfungen her, räumt also Widersprüche ("falsches") aus. Da die aristotelische Logik - die bis heute für die Vernunft als gültig ("wahr") angesehen wird - nur zwei Zustände kennt (nämlich wahr und falsch), wird sie auch als zweiwertige Logik bezeichnet (siehe 3. logisches Axiom).

Bereits im täglichen Leben zeigt es sich, daß wir fast nie nach dieser ausschließenden Zweiwertigkeit handeln. Viel eher sagen wir "vielleicht", "man wird sehen", "mag sein", "möglich", etc. In der Praxis ziehen wir Zwischenlösungen vor, schwarz-weiß gemalt wird nur in Diskussionen mit dem (politischen) Gegner oder vor dem Richter im Streitverfahren. Diesem pragmatischen Umstand des menschlichen Entscheidens, das durch das Hinzukommen eines Unbestimmtheitsgrades einen dritten Wert erhält (dreiwertige Logik), versucht die vor kurzem erfundene Fuzzy logic in Computersystemen zu entsprechen.

Im östlichen Denken ist die dreiwertige Logik (der dritte Wert heißt dort mju oder my) bereits ein alter Hut. Sie entspricht der täglichen Erfahrung; den 3. Wert aus dem Entscheidungsprozeß der Vernunft auszuklammern ist in der Praxis nicht einzusehen. Für den Fortschritt der Technik ist freilich die zweiwertige (Widersprüche auflösende) Logik essentiell: ohne sie stünde unsere Zivilisation auf der Stufe des Rades und der menschlichen bzw. der Tierkraft. Nur: Ist die Welt, wie wir sie als natürliche erleben, zweiwertig? Wo existiert in der Natur Falsches? Wo existieren Widersprüche?

Der wesentliche Unterschied zwischen westlichem und östlichem Denken besteht darin, daß der östlich Denkende im gegensätzlich Erlebten das Polare, der westlich Denkende aber das Widersprüchliche sieht! Selbst das Gegensätzliche ist nur als Erlebtes gegensätzlich, an sich aber nicht! Um Gegensätzliches als solches zu erfahren, bedarf es des beobachtenden Bewußtseins und der Kategorien des Denkens. Selbst der Voraussetzung fürs Gegensätzliche, dem Unterschiedlichen, ist schon beobachtendes Bewußtsein vorausgesetzt! Ohne beobachtendes Bewußtsein gibt es weder Unterschiedliches, noch Gegensätzliches, noch Widersprüchliches, noch Polares. Alle sind sie Interpretationen einer beobachtenden Vernunft, die analysierend das Ganze (=EINE) zerlegt.

In der Natur agiert nur Wahres als unzerlegt Eines. Wir allein sind es, die wertend an die Natur herangehen und im Sinne unseres Nutzens (Utilitarismus) von "Wahrem" (="Gutem", uns Nützlichem) und "Falschem" (="Bösem", "Schlechtem", uns Schadendem) sprechen und Hand an die Natur legen, um sie uns "untertan" zu machen (Genesis). Die Natur ist weder zweiwertig-logisch, noch dreiwertig-logisch noch überhaupt logisch. Aber, frei nach Peitgen: Wenn wir die Natur logisch sehen wollen, hindert uns nichts und niemand daran es zu tun. Nur eines sollte uns daran hindern: unsere Vernunft nämlich, die einsehen muß, daß ihre Kriterien nicht jene der Natur sind!

Die Raum-Zeit

Die Erfahrung des Raumes und der Zeit (der "Raum-Zeit") gehört wohl zu den ursprünglichsten Erlebnissen eines jeden von uns: die des Raumes angefangen vom Freud'schen Geburtstrauma über den Mund-Urraum und die ersten Greifversuche des Säuglings bis zur Wissenschaft der Astronomie und Kosmologie. Die Erfahrung der Zeit mag eine ähnliche Entwicklung durchlaufen: von den mütterlichen rhythmischen Herztönen, die wir schon im Mutterleib registrieren und die wohl eine erste Art von Taktfrequenz-Empfinden darstellen, über unser regelmäßiges und ungestümes Verlangen nach Nahrung und die Erfahrung von Tag und Nacht bis zu Newtons absoluter und Einsteins relativer Zeit. Beide Phänomene, sowohl der Raum als auch die Zeit, haben noch keinen Philosophen unberührt gelassen: von Augustinus ("Was tat Gott, bevor er die Zeit schuf?" - "Er hat Höllen geschaffen für Leute, die so blöde Fragen stellen!") über die Kant'sche Theorie der Anschauungsformen bis zur heute allgemein gültigen (?) vierdimensionalen Raum-Zeit mit Urknall- und Inflationstheorie.

Gerade das Beispiel Kant zeigt die Schwierigkeiten, die sich bei den Phänomenen Raum und Zeit für unser Bewußtsein (unsere Vernunft) ergeben: Kant spricht von Raum und Zeit sowohl als objektiv gegebene als auch als Anschauungsformen, also dem Menschen mitgegebene Fähigkeiten, Raum und Zeit erkennen zu können. Dabei hat es seine doppelte Schwierigkeit: denn weder den Raum, noch die Zeit können wir tatsächlich wahrnehmen. Vielmehr nehmen wir beim Raum das Auseinander der Dinge (Körper) wahr und bei der Zeit das Nacheinander von Ereignissen. Ein Ding erscheint uns als sinnlich erfaßbar durch seine physikalischen Eigenschaften wie Gewicht, Form, Farbe, Geruch, Aggregatzustand, spez. Gewicht, Ladung, Impuls), ein zeitliches Ereignis e b e n s o . Nur kommt beim Zeit"empfinden" die Leistung unseres Gedächtnisses dazu. Wir erleben dank unseres Gedächtnisses ein Nacheinander von Ereignissen und messen dieses Nacheinander über die Dauer einer Bewegung als Zeit. Um Zeit erleben und messen zu können, bedarf es für uns also der Bewegung. Diese erleben wir als Ortsveränderung eines Dinges. Ortsveränderung wird uns abermals nur durch das gedächtnismäßig abgespeicherte Nacheinander von örtlich als verschieden registrierten Ereignissen bewußt! Nirgendwo ein direktes Empfinden von Raum und Zeit.

Sehr schön illustriert diese Verknüpfung von Zeit und Bewegung das Märchen vom Dornröschen. Zum gleichen (relativitätstheoretisch betrachteten!) Zeitpunkt, zu dem sich Dornröschen mit der Spindel sticht, will der Koch seinem Küchenjungen eine Ohrfeige geben. Durch den Spindelstich bleibt aber die Zeit (relativitätstheoretisch nur im Schloß!) stehen. Draußen (in einem anderen System) vergehen hundert Jahre, bis der Prinz kommt, die inzwischen wildwuchernde Hecke überwindet und Dornröschen wachküßt. Was jetzt passiert ist phänomenal: Gleichzeitig mit dem Erwachen Dornröschens kriegt der Küchenjunge seine Watsche. Für Dornröschen, den Koch und den gefotzten Küchenjungen ist de facto überhaupt keine Zeit vergangen: Durch den Stillstand aller Bewegung innerhalb des Systems Schloß gab es keine Möglichkeit zur Zeitmessung, respektive verfloß überhaupt keine Zeit!

Kant wollte durch Splittung des e i n e n Phänomens Raum-Zeit in die objektive Raum-Zeit und in deren Anschauungsform(en) Raum und Zeit "erklären". Im täglichen Überlebenskampf unterscheiden wir aber nicht zwischen Anschauungsformen und "objektiver" Raum-Zeit; wir erleben Raum als eng oder weit und Zeit als kurz oder lang. Und zwar als für uns absolut - egal ob diese subjektive Absolutheit relativ zu anderen ist oder nicht. Wir haben kein Sensorium für die Relativität von Zeit (und Raum?). Für uns sind Raum und Zeit subjektive Absolutheiten - daher übersteigt jede Aufsplittung in subjektive Absolutheit und objektive Relativitäten unseren Verstand und damit auch unsere Vernunft. Wir "steigen" beim Zwillingsparadoxon4) "aus". Auch bei Begriffen wie Zeitumkehr5) oder Zeitschleife6) müssen wir passen.

Wieder wäre bei Peitgen nachzulesen: Natürlich können wir in die Welt Zeit hineinsehen. Wir werden etwas, das wir mit diesem Begriff benennen, wohl auch finden ("vierdimensionale, relative Raumzeit"). Sie als objektiv gegeben anzunehmen ist natürlich kühn - und im Falle der Raumzeit gleich im doppelten Maße: weil Raum und Zeit nicht nur Produkte der Vernunft sind. Sie sind - im Unterschied zu Kausalität, Finalität und Logik - auch Phänomene, die (wenn auch nicht als vernunftmäßig faßbarer "Raum" und vernunftmäßig faßbare "Zeit") offensichtlich seinskonstituierend sind. Sie haben "mit der objektiven Welt etwas zu tun": und zwar der Raum als die Körper auseinander haltende Kraft und die Zeit als Veränderung oder Werden der Dinge. Dies sind natürlich Begriffe, mit denen die Vernunft nur indirekt umgehen kann. Der Kraftbegriff ist in der Physik bis heute nur nahwirkend (über den "Billard-Effekt" der Feynmann-Diagramme)7) als Wechselwirkung vorgestellt; und mit dem Werden mühen wir uns ohnedies vergeblich ab: weil unsere Vernunft - aus evolutionsbedingten Gründen - nur mit dem erfahrbaren Raum und der erfahrbaren Veränderung zurande kommt. Alles für uns darüber Hinausgehende (die endliche Teilbarkeit von Dinglichem, die Grenzen des Räumlichen und Beginn und Ende des Zeitlichen) ist für unsere Vernunft jedoch unfaßbar und für unseren Verstand unvorstellbar.

TEIL II: VERSTAND, VERNUNFT UND DAS (UN-)VERNÜNFTIGE

Die Zweiteilung in Vernunft und Verstand geht auf Platon zurück, dem Begründer der dualistischen, idealistischen abendländischen Philosophie. Er unterscheidet in Nous (Vernunft"seele" ), von der die Ideen (eine Erfindung Platons, die bereits sein Schüler Aristoteles verworfen hatte), "erkannt" werden, und in Dianoia, die sinnliche Verstandeserkenntnis, die diskursiv, also Schritt für Schritt vorgeht, von einer Vorstellung zur anderen logisch fortschreitet, das Ganze aus seinen Teilen aufbaut und sich stets auf die sinnliche Erfahrung bezieht. Seither gilt der Verstand allgemein als das Vermögen zu denken, zu erkennen und zu urteilen, soweit sich auf die sinnliche Anschauung bezieht, die er mittels der Begriffe zu einer Einheit zu ordnen versucht. Die Vernunft hingegen "bezieht sich auf den Verstand, leitet, regelt und ordnet die Verstandestätigkeit bzw. die Verstandeserkenntnis; sie setzt dem Verstand seine Grenzen ... Der Verstand bedarf also einerseits der sinnlichen Anschauung (des sinnlichen Materials), andererseits der leitenden, regelnden und zielsetzenden Tätigkeit der Vernunft... (Lexikon der philosophischen Begriffe)

Das ist natürlich sehr lexikalisch und eher verwirrend als erläuternd. Die Unterscheidung in Verstand und Vernunft ist ja selbst eine Tat der Vernunft: weil sie analytisch (also zerlegend) vorgeht. Aber schon an dieser Analyse erkennt man, wie die Vernunft arbeitet: sie vermag das Ganze nur in zerlegter Form - in "Portionen" zu verkraften. Nur die vielen kleinen Schritte, die sich aufgrund der vom Verstand (nach den Regeln der Vernunft) zusammengeknüpften Sinnesdaten zu kleineren und größeren Einheiten zusammenfügen lassen, bringen der Vernunft Erkenntnis. Ob diese Unterscheidung in Vernunft und Verstand überhaupt nötig ist, ist die Frage: verwirrt das Problem der Vernunft und ihrer Beschränktheit doch nur, anstatt die Vernunft ganz einfach als jenes Vermögen des Menschen zu bezeichnen, das sich diskursiv, also logisch, kausal und final von der Welt ein Bild macht: und zwar eben genau dasjenige, das wir das rationale Weltbild oder rationales Denken nennen.

Schon Aristoteles unterschied daher "nur mehr" in aktive und passive Vernunft. Unter "aktiver Vernunft" meinte er jene Vernunft, die allen Menschen zukommt - also die Fähigkeit, abstrakt, kausal, final und logisch denken zu können. Sie macht den Menschen zum Menschen (animal rationale). Wie sehr (und ob) es dem einzelnen nun gelingt, diese angelegte (angeborene; bei Kant: a priori) Fähigkeit auch umzusetzen, nennt Aristoteles passive Vernunft (was also das allgemeine Vermögen der Vernunft der Spezies Mensch durch die einzelne Kreatur "erleidet"). Da dieses Ge- oder Mißlingen ein höchst persönliches ist, geht es auch mit dem Tod verloren. Nicht verloren geht das Vernunfthaben der gesamten Art: jeder Mensch, der geboren wird hat ja - kraft seines Menschseins - Vernunft.

Heute gipfelt diese aristotelische Sicht der Vernunft nur wenig verändert im Paradigma der modernen Naturwissenschaft, das nicht nur aristotelisch sondern auch stoisch ist: In der Stoa ( ab 300 v. Chr.) wurde nämlich erstmals der Begriff der Weltvernunft geprägt, die sich in der Gesetzmäßigkeit des Kosmos manifestiere und an der der Mensch - beschränkt - Anteil habe. Die beiden modernen anthropischen Prinzipe (aber auch zum Teil die Evolutionäre Erkenntnistheorie) greifen auf dieses Denken zurück.

Ähnlich wie die Stoa argumentierte rund ein Jahrtausend später Thomas von Aquin, indem er die Vernunft in intellectus, eine Art "geistige Schau", in der die Prinzipien (= die Ideen Platons) eingesehen werden, und in ratio, das trennende, aber auch verbindende und abstrahierende Verstandesvermögen, unterteilt: Platon war, christlich verbrämt, wiederauferstanden. Sein Denken gipfelt schließlich in der mittelalterlichen Sicht, daß der Mensch an der "göttlichen" Vernunft nur beschränkt teilhaben könne... Der Mensch würde die Welt nie verstehen, Gottes Ratschlüsse blieben für ihn uneinsichtig, die Vernunft zu schärfen sei vergebliche Liebesmüh', ja sogar des Teufels...

Die Aufklärung lehrte dann - in Opposition zur Kirche -, der Mensch vermöge kraft seiner Vernunft alles zu erkennen: die Vernunft sei auf den Menschen und die Welt bezogen und nichts Jenseitiges oder gar Göttliches mehr. Auch zwischen Vernunft und Verstand wurde nicht mehr strikte unterschieden.

Diese Trennung führte erst Kant wieder ein: indem er in reine Vernunft und Verstand (und als Drittes auch in "Urteilskraft") unterschied. Die reine Vernunft sei dabei in uns a priori, also "von vorne herein" angelegt. Sie entspricht damit in etwa der aktiven Vernunft Aristoteles', basiert nicht auf sinnlicher Erfahrung, sondern ist die Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis schlechthin. Dazu bedient sie sich des Verstandes und seiner Regeln, sammelt seine Erkenntnisse und richtet sich auf das Ganze der Erfahrung, die Einheit und Totalität aller Erkenntnis. Damit ist der Kant'sche Vernunftbegriff gegenüber unserem, in diesem Aufsatz relativ eng gefaßten, erweitert: er beinhaltet auch die Intuition oder, wie Kant sie nennt, die Anschauung, also jene Erkenntnisform, die das rein Logische, Kausale, Finale (in unserer begrifflichen Bestimmung: das Rationale) übersteigt: Im Kant'schen Vernunftsbegriff ist auch das Absolute (das Unbedingte, dasjenige, das ohne Bedingungen bzw. Ursachen besteht; Gott etwa, die "Seele" und die Welt als gesamtes) sein Forschungsgegenstand.

Hegel "hebt" dann völlig "ab": seine Vernunft übersteigt den auf sinnliche Anschauung angewiesenen Verstand und hebt in der dialektischen Bewegung die vom Verstand festgestellten Gegensätze (=Widersprüche) auf. Dadurch gelangt die Vernunft in hegel'scher Sicht "zum wahren, begreifenden Erkennen". Hegel: "Was vernünftig ist, das ist wirklich, und was wirklich ist, das ist vernünftig." Damit wird die Vernunft zum alles umwaltenden Weltenprinzip ("Absolutes", "Weltgeist") und vollendet sich in Hegel sogar selbst(!). Damit erhält - wie bei Plato - die Vernunft göttliche Attribute: die Trennung zwischen Weltvernunft und persönlicher Vernunft ist zwar "aufgehoben", die Vernunft aber zum ALL-EINEN Prinzip, das sich dialektisch äußert und vom menschlichen Verstand als solches begriffen wird, erklärt. Hegels Philosophie wird daher von seinen Gegnern als spekulativ bezeichnet: als monumentales Gebäude sei sie in keiner Weise mehr falsifizierbar, stehe daher nicht mehr in der Alternative von richtig ("wahr") und falsch und ist somit reine Glaubenssache...

Folgerichtig wenden sich die späteren Philosophen von solcher Spekulation ab und beschränken die Vernunft - wie in dieser Arbeit - lieber auf's Instrumentelle. Nach Th. W. Adorno und M. Horkheimer richtet sich die Vernunft auf technische Verfügbarkeit und Beherrschung der Natur allein aus. Da eine solche Vernunft (laut dieser Autoren) damit in die "Barbarei" führt ("Anything goes", siehe auch heutige Umweltproblematik), bedarf es zu ihrer Zähmung der Kommunikation und intersubjektiven Argumentation, die als kommunikative Vernunft zum intersubjektiven Konsens führen soll.

Der Konsens liegt aber bereits außerhalb der Vernunft! Über die Vernunft alleine kann die Welt nicht gelebt werden, denn leben umfaßt mehr als umgehen (=feststellen und negieren) von Widersprüchlichem. Nur der sinnvolle Umgang mit ihnen (nämlich ihre zielführende Eleminierung) kann verstanden werden. Nur das heißt verstehen! Also kann die Welt als Ganzes mit Hilfe der Vernunft gar nicht verstanden werden, da:

1) aufgrund des Gesetzes vom immerwährenden Widerspruch mit jeder Lösung eines Widerspruchs sofort mehrere neue auftreten. Und

2) außerhalb der Vernunft überhaupt nicht(s) verstanden werden kann. Verstehen beschränkt sich ja auf das erfolgreiche Zusammenspiel von kausalem und finalem Denken. Allerdings gibt es auch andere Arten von Denken: so z. B. irrationales (=mystisches) und holistisches (=ganzheitliches) etwa, in denen Gegensätze nicht als Widersprüche, sondern als Polaritäten gesehen werden (=östliches Denken). Außerhalb der Vernunft können sehr wohl Gegensätze (z. B. als sich ergänzende Polaritäten) bestehen bleiben. Es ändert sich allerdings der Umgang mit ihnen: sie werden nicht negiert, sondern bejaht! In diesen Denkarten wird ergo dessen geglaubt, geliebt, gehofft und vertraut werden. Dies mag zwar unwissenschaftlich sein, ist aber zutiefst menschlich und macht das Leben erst lebenswert!

Das (Un-)Vernünftige

Wir haben bisher den Begriff des (Un-)Vernünftigen mit Absicht und gutem Grund vermieden: denn Vernunft und (Un-)Vernünftiges sind zweierlei. Vernunft und Verstand sind Theorie und Praxis jener Weltsicht, die sich der Methoden der Vernunft bedient und verstehend (und nicht etwa glaubend, vertrauend, hoffend und liebend) einen Sachverhalt allgemein gültig erklärt. "Vernünftig" und "unvernünftig" sind hingegen Begriffe, die nicht allgemein gültig, also "objektiv", sondern höchst subjektiv (bestenfalls: intersubjektiv) sind und eine erklärende Kausalitäts-Finalitäts-Verknüpfung meinen, der nur ich (oder meine Gruppe) zuzustimmen brauche(n) - oder auch nicht. Erscheint mir (oder meiner Gruppe) eine Erklärung als schlüssig, so halte ich (oder hält meine Gruppe) diese Aussage für vernünftig; erscheint mir (oder meiner Gruppe) die Erklärung als unschlüssig, so verwerfe ich (verwirft meine Gruppe) sie als unvernünftig.

Diese Unterscheidung ist wichtig, liegt in ihr doch die Lösung des Rätsels, wieso der Homo sapiens soviel - angeblich oder tatsächlich? - Unvernünftiges im Verlaufe seiner Geschichte produziert hat. (Un-)Vernünftiges wird dabei stets durch die Brille der Utilitarisms gesehen: Was mir nützt ist vernünftig, was mir schadet ist es nicht. Diese fürs Erste überraschend simpel erscheinende Definition führt auf die ursprüngliche Aufgabe der Vernunft zurück: Ist Vernunft doch jenes Mittel, das primär mein Überleben garantiert. Sie hat damit im Zuge der Evolution den Instinkt abgelöst und den Menschen aus der Unbedingtheit seines Lebens (=Paradies) befreit. Damit hat er sich auch aus seiner ursprünglichen ökologischen Nische ("von den Baumkronen") befreien können und ist heute auf der Welt omnipräsent. So gebunden das Instinktive ist (z. B. der Schlüsselreiz), so frei vasziert die Vernunft durch Raum und Zeit - aber nur durch sie! Diese Freiheit der Vernunft bringt es aber mit sich, daß unterschiedliche Menschen (unterschiedliche Gruppen) Verschiedenes als für sie nützlich (im weitesten Sinn: "ihr Überleben sichernd") bewerten. (Un-)Vernünftiges ist also immer ein Wert. Werte sind aber stets subjektiv, sie gelten nur für den einzelnen oder (über Moral oder Gesetze) innerhalb einer bestimmten Gruppe, nie aber als allgemein verbindlich.

Selbstverständlich gibt es immer Bestrebungen, solche subjektiven oder intersubjektiven Werte für allgemeinverbindlich zu erklären: man spricht dann von Ideologien oder - vermischen sie sich mit Mystischem - von Religionen (wobei keine Ideologie ohne Mystik auskommt und keine Religion ohne Vernunft!). Ideologie und Religionen haben daher stets als Bestrebungen, ihre intersubjektive Wahrheit (=Vernünftigkeit) zu einer absoluten zu machen. Absolute Vernünftigkeit ist aber gleichzusetzen mit absoluten Vernunft, weil im Absoluten [Definition des Absoluten: das "Losgelöste" (d. h. von allem Widersprüchlichen)] keine Widersprüche mehr bestehen können. Vielmehr sind in ihm alle Widersprüche aufgehoben - womit wir wieder bei Hegel wären. Alle Religionen und Ideologien fordern aber Absolutheitsanspruch ein: indem sie vorgeben, im alleinigen Besitze der EINEN Wahrheit (=alleinige Vernünftigkeit als absolute Vernunft) zu sein. Damit werden alle Ideologien und Religionen zu wahrheitsverkürzenden Spekulationen, um die sich der vernunfthabende Mensch gar nicht zu kümmern bräuchte: Eine Vielzahl von behaupteten "Absolutheiten" (wie sie ja die Menge an Ideologien und Religionen darstellt!) ist ja tatsächlich widersprüchlich, da das Absolute per definitionam nur EINES, nicht aber vieles (mehreres) sein kann!

Genau an dieser Stelle bricht auch die Differenz (schon wieder ein Widerspruch!) zwischen Vernunft und Vernünftigkeit auf: Es ist bar jeder Vernunft und widerspricht auch den Regeln der Vernunft, sich mit mehreren Absolutheitsansprüchen auseinanderzusetzen. Es mag aber durchaus vernünftig zu sein, als Anhänger einer solchen krausen Absolutheitsideologie (wieder ein Widerspruch: eine Ideologie kann niemals absolut sein, sondern steht selbstverständlich beständig im Widerspruch zu anderen Ideologien!) diese vehement zu vertreten: aus schierem Machtanspruch (=Utilitarismus) mit dem Ziel der (Welt-)Herrschaft. Die Ideologien des Kommunismus, des Kapitalismus, des Katholizismus und jedes Faschismus bezeugen die jeweilige Vernünftigkeit, sich zu ihnen zu bekennen, solange man daraus Nutzen zieht. In diesem Bestreben, das subjektiv für richtig (=wahr, vernünftig) Gehaltene zum objektiv Richtigen ("Absoluten") machen zu wollen, liegt die Ursache für jede Auseinandersetzung: vom kleinlichen Nachbarstreit um das jeweilig "Rechte", bis zum Weltkrieg; vom nebensächlichen Rechthabenwollen bis zum prinzipiellen Kampf diametraler Weltwirtschaftssysteme, in dem - vorläufig! - der Marxismus unterlegen ist.

Eine weitere Dimension erhält das Problem von Vernunft und (Un-)Vernünftigkeit, wenn das Mittel der Vernunft und ihre Methoden in Bereichen zur Anwendung kommen, die prinzipiell außerhalb der methodenadäquaten Anwendbarkeit der Vernunft liegen: Wenn also mit der Methodik der Vernunft Glaubensinhalte8) "erklärt", die Liebe "bewiesen", das Kunstwerk "verstanden", das Vertrauen "überprüft" und das Hoffen "abgewogen" werden. Gott mit der Taschenlampe suchen zu wollen erscheint jedem als inadäquates Mittel; warum nicht auch jeder Versuch, z. B. das Mysterium des Christentums mit kausalen und finalen Methoden (also eindeutigen Vernunftsmethoden!) "verständlich" machen zu wollen? Genau wegen jenes Unterfangens wird ja heute die Scholastik und ihre Versuche, urmystisch Christliches über die - aristotelische - Vernunft aufzubereiten und widerspruchsfrei zu machen, so negativ beurteilt.

Ähnliches betreibt die Ideologie der Naturwissenschaft9), wenn sie mit Hilfe des Allgemeingültigkeits-Anspruchs der von ihr er-fundenen (und nicht ge-fundenen) Naturgesetze das Sosein der Welt erklären möchte. Sie vergißt dabei, daß die Vernunft

a) nur im Menschen, und nicht in der gesamten Welt wirkt:

b) im Zuge der Evolution nur jenes Mittel ist, den Menschen überleben zu lassen und daher nur ausreicht, die menschliche Um- oder Mitwelt zu manipulieren, nicht aber das ganze Universum zu erklären.

In dieser Beschränktheit der Vernunft liegt auch begründet, daß wir mit ihrer Hilfe sowohl im Mikro- als auch im Makrokosmos an die gleichen Grenzen der Vernunft stoßen: an die Unauflösbarkeit und vor allem an die Unanschaulichkeit der Grenzbegriffe des Raum-Zeitlichen. Sowohl die Suche nach den kleinsten Bausteinen der Materie (Quarks und ihre vermuteten Substrukturen) als auch die Frage nach der Grenze des Kosmos stellen (werden sie konsequent kausal-final betrieben) die Vernunft vor unlösbare Fragen. Gleiches passiert ihr bei der Frage nach dem Beginn (Urknalltheorie) und dem Ende unserer Welt (Inflationstheorie). Die Vernunft ist für die Beantwortung dieser Fragen nicht ausreichend ausgestattet. Antworten auf solche Fragen zu geben führt stets in Unanschaulichkeit und Unverständigkeit. Mikro- und makrokosmische Grenzfragen übersteigen sowohl die Sinnlichkeit des Verstandes als auch die Schlüssigkeit von Logik, Kausalität und Finalität, da alle drei Denkmethoden vom sinnlich Faßbaren (also vom Vorstellbaren) abheben. Sie werden damit zu Leermethoden ohne jeden praktischen Aspekt, wirken plötzlich nicht mehr (über das Bewußtsein des Menschen) in der Welt, sondern lassen die Welt in ihnen wirken. Logik, Kausalität und Finalität werden auf diese Weise zu einer Trinität des Absoluten mit religiösen Ansprüchen: so ist es! Selbstverständlich gilt für eine solche Absolutsetzung das gleiche, wie für jede Religion oder Ideologie: Absolutes ist nicht strukturiert und in sich unterschiedlich; es ist EINES.

Resumé:

Wichtigste Aufgabe des Philosophen - aber auch des Naturwissenschafters und Religiösen - ist es daher, die Vernunft dort zu belassen, wohin sie gehört: als Medium innerhalb der praktischen (und damit technischen) Lebensbewältigung. Wo jede Falsifizierbarkeit (vor-popperanisch: jede Verifizierbarkeit) endet, hat die wissende Vernunft ausgedient und muß der auf Wahrheit vertrauende Glaube ansetzen. Dieser Glaube muß aber transkonfessionell sein, da er sonst sofort in Ideologie erstarrt.

Fußnoten

1) Darunter versteht man ein Denken, demzufolge das Universum nur "deswegen" existiert, um in seinem Da- und Sosein durch den Menschen erkannt und verstanden werden zu können (starkes anthropisches Prinzip). Unter seiner "schwachen" Ausprägung versteht man - fast identisch mit dem Inhalt der Evolutionären Erkenntnistheorie -, daß der Mensch als "Kind" ebendieses Kosmos in den Stand gesetzt sei, Kraft seiner Vernunft das Sosein und Warum des Universums begreifen zu können.

2) Die Induktion ist ein kniffeliges philosophisches Problem. Es ist nämlich logisch gesehen überhaupt nicht einzusehen, warum die Sonne, bloß weil sie seit 4,5 Milliarden Jahren tag-täglich aufgeht, auch morgen wieder aufgehen sollte. Wohl glauben wir das und halten es für höchstwahrscheinlich, allein: durch Logik ist es nicht ableitbar!

3) Alle Ansätze "Gott" mit rationalen (=raum-zeitlichen) Begriffen zu fassen suchen, sind zum Scheitern verurteilt, weil damit Inkommensurables aus den Bereichen der Vernunft und des Glaubens vermengt werden. Da nützen auch nicht begriffliche (Kunst)-Schöpfungen wie All-Mächtigkeit, All-Wissenheit und All-Gegenwärtigkeit, da trotz des Vorsetzens der Silbe "All" vom ursprünglich raum-zeitlichen Begriff stets mißverständliche Teile "mit"transportiert werden (wohin eigentlich?).

4) Ein mit Lichtgeschwindigkeit von der Erde wegreisender und zurückkehrender Zwilling altert weniger als sein auf der Erde zurückbleibender Bruder.

5) Beim implodierenden Weltall (nach der hypothetischen Umkehr der Expansion) wird eine "negative Zeit" vorgestellt; der Zeitpfeil kehrt sich um. Nach den neuesten Forschungen Stephen Hawkings soll dies aber nicht mehr aufrecht zu erhalten sein.

6) Weltlinien können sich bei starker Raum-Zeit-Krümmung (z. B. an einem Schwarzen Loch) überschneiden ("zeitartige Kurven"); dabei sollte man in die eigene Vergangenheit gelangen können...

7) Kraft wird als "Austausch" von Elementarpartikeln verstanden (Bosonen, Mesonen, Photonen und Gravitonen); letztere sind hypothetisch.

8) Unter Glaubensinhalten sind hier nicht - immer willkürlich gesetzte - Dogmen von Konfessionen gemeint, sondern wird das tief empfundene, freiwillig (autonome) Für- wahr-Halten von Irrationalem, also jenseits der Vernunft Liegendem, verstanden: das Mystische. Dieses setzt sich gegen alle Heteronome ab und ist letztlich nur meditativ erfahrbar. Der deutsche Mystiker Meister Eckehart ist dafür ein gutes Beispiel

9) Ideologie ist Naturwissenschaft dann, wenn sie - wie alle Religionen und Ideologien - mit dem Anspruch der Allein-Gültigkeit und Unfehlbarkeit auftritt, ein All-Anspruch, dem die Naturwissenschaft seit der Aufklärung mehr und mehr erlegen ist.