Mord vor der Klagemauer Bestellen? Zurück Home

Beim Rettungswagen steht Uri. Nadja gestikuliert, er winkt ihr zu, ohne das Handy vom Ohr zu nehmen, aber das genügt, schon läßt man sie zu ihm gehen.

"Wer hat geschossen?"

Uri schüttelt den Kopf, steckt sein Handy ein und legt Nadja den Arm um die Schultern, weil er weiß, wie der von den Dum-Dum-Geschoßen zerfetzte Ari Schwartz aussieht.

"Der hat ihn gut erwischt. Wer das gewesen ist? Wir wissen nur, er hat Dum-Dum-Geschoße verwendet."

"Was, bitte?"

"Beim Eindringen in den Körper zersplittern diese Kugeln in kleine Metallteile, die innen alles zerreißen. Ein gewöhnliches Geschoß verläßt den Körper wieder, ein Dum-Dum-Geschoß nicht. Darum hat die Genfer Konvention diese Geschoße verboten. Man kann sie nirgends kaufen, man kann sie nur selbst herstellen. Und besonders widerlich ist, daß dein Freund nicht von einem, sondern von zwei Dum-Dum-Geschoßen getroffen wurde. Und beide sitzen im Bauch. Sein Mörder muß ihn gehaßt haben."

"Atmet er noch?"

Uri schüttelt den Kopf.

Nadja schaut den Toten lange an. Er liegt reglos auf der Bahre, und eine abweisende Totenstarre hat sich in seine Züge gekrampft. Ein bettgroßes, weißes Tuch wird über ihn gebreitet.

Uri zieht Nadja von der Leiche weg. Er habe noch keinen rechten Verdacht, sagt er. Man müsse die Untersuchungen abwarten. Wenn es etwas Politisches sei, werde sich bald jemand melden.

Die Tür des Wagens wird geschlossen und die Leiche weggebracht. Nadja schluckt. Diese kurzen, blonden Kraushaare wird sie nicht so schnell vergessen. Hundertmal hat sie diesen Wuschelkopf in den Pressekonferenzen vor sich, neben sich oder hinter sich gespürt, denn sie beide waren von Nadjas erstem Tag in Jerusalem an oft und gern zusammen gewesen. Er, der Jude, und sie, die Tochter eines moslemischen Teppichkaufmanns aus Beirut. Die mittlerweile allerdings von keiner Religion mehr allzuviele Friedensbemühungen erwartet. Einmal hat Ari den makabren Satz gesagt, der schönste Tod sei der hinter der Kamera. Den hat er jetzt. Ja, er hat es Nadja mehrmals gesagt, die Arbeit für CNN ist von Anfang an 'sein Traum' gewesen. Er war einer, dem Kennedys 'New Frontier' noch etwas bedeutet hat. Aber jetzt kommt der gute Mann nur noch ein paar Tage in die Kühlabteilung, dann ist der Traum aus.

Genaugenommen ist er jetzt schon aus.

Am meisten haben ihn seine Kollegen um seine wechselnden Freundinnen beneidet. Nur Nadja hat sich nie so recht an die jeweils Neue gewöhnen können. Zu schnell war immer wieder eine andere da gewesen. Und das, obwohl Ari verheiratet gewesen ist. Aber deswegen bringt man doch niemanden um! Oder gibt es das heutzutage noch? In diesem Land? Öffentliche Eifersuchtsmorde?

Bei den Arabern kommen die vor. Morde, von denen gesagt wird, daß sie die Ehre der Familie wiederherstellen. Aber bestraft man als Araber einen Mädchenschänder ausgerechnet auf dem allerjüdischesten Platz der Stadt?

Nein, der Mann muß einen anderen Grund gehabt haben. Die meisten Leute werden immer noch aus Geldgier umgebracht. Auch hier. Aber zu Hause. Und nicht am Schabbat. Inmitten aufgescheuchter Orthodoxer. Am Platz vor der Klagemauer. Rundum starren Chassidim sie an. In ihren Festgewändern. Den glänzenden, gestreiften Mänteln, den weißen Strümpfen bis zur halben Wade, den pelzbesetzten, schwarzen Hüten. Was ist das? Kino?

Nein, das ist ein simpler Schabbat in Jerusalem. Ein langsam drückend heiß werdender Schabbat. An dem es jetzt auch noch penetrant nach Abgasen stinkt. Der Davidstern-Wagen ist erst nach einer lauten Fehlzündung abgefahren.

Ja, nun haben sie ihn. Jetzt ist er endgültig tot. Ausgeliefert der staatlichen Leichenordnung. Die Ärzte werden seinen zerschossenen Körper öffnen, die Polizisten alle Laden in seiner Wohnung, sie werden in den Tagebüchern stöbern und die Hochglanzfotos der lebenslustigen, jungen Frauen befingern, die Ari nachgelaufen sind, weil sie alle von ihm geliebt werden wollten. Was aber werden sie finden? Ein paar unbekannte Details über den Toten vielleicht, aber sicher nichts, was den Mörder kenntlich machen wird. Denn einer, der es wagt, mitten auf dem Platz vor der Klagemauer am hellichten Tag seinen Feind niederzuschießen, hinterläßt keine Spuren in irgendwelchen Nähkästchen.

Mord vor der Klagemauer

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