Über die „Unmöglichkeit“, „in der Zeit“ vorauszusehen
von Univ. Lektor Prof. Mag. Dr. Walter Weiss, Philosoph in Wien–Klosterneuburg
„Er stand neben dem Pferd, das sich plötzlich aufbäumte
und voller Angst schrie. Dann hörte auch er das sich nähernde Geräusch, im
gleichen Augenblick aber auch all das Ticken, Stundenschlagen, Pendeln und
Läuten der Uhren in seines Vaters Geschäft und wunderte sich, daß er diese
Geräusche, die er schon lange nicht mehr gehört hatte, ausgerechnet jetzt hörte
…
… Wenige Minuten später standen Oberleutnant Marzoner und
der Korporal vor einem riesigen Krater mitten in der Straße. Von oben, dort, wo
die Montenegriner noch immer ihre Stellung auf dem Krstac hielten, mußte die
Granate gekommen sein, ein besonders schweres Kaliber, das die ganze Straße
aufgerissen und in den Abgrund geschleudert hatte. Sie hatten beide die Mützen
abgenommen, standen da und starrten auf den Einschlag. Da war einfach nichts mehr
da, kein noch so kleines Stückchen von Hauptmann Ernst Buchheim und auch nicht
von seinem Pferd. Sie hatten sich in Nichts aufgelöst, nur die Reitgerte des
Hauptmannes hing etwas weiter weg am Hang in einer kleinen zerfetzten Tanne!“
Voraussehen oder -ahnen?
So beschreibt Herbert Fleck in seinem Buch „Plus ultra“[2] das plötzliche Ende von Hauptmann Ernst von Buchheim – und seinem Pferd. Schauplatz: Kotor im heutigen Montenegro, im Ersten Weltkrieg 1914 beim Sturm der Österreicher auf die Stellungen der Montenegriner in der Boka Kotorska.
Szenenwechsel.
Ich kann jetzt nicht mehr so genau zitieren, wo darüber ausführlich berichtet worden ist: Aber jeder weiß es aus eigener Erfahrung: Kaum ein – allerdings dem eigenen Kulturkreis zugehöriges – Musikstück, bei dem der aufmerksame und (leidlich) musikalische Zuhörer nicht wüßte, was (also welcher Ton oder welche Tonfolge) als nächstes käme: auch ohne das Musikstück kennen zu müssen. Das ergäbe sich alleine aus dem Gefühl für (gewohnte!) Harmonie und dem Aufbau – klassischer – Kompositionen, heißt es dazu. Soll sein.
Unzählbar die Geschichten („Berichte“ wäre wohl etwas zu weit gegriffen) über Erlebnisse (meist aus dem Krieg; siehe obiges Zitat), nach denen Soldaten den Einschlag einer Granate oder das Herannahen einer Gefahr „gespürt“ hätten – und ihr rechtzeitig ausgewichen seien. Ungleich höher die Zahl jener Opfer freilich, die – ohne jede Vorwarnung oder „Ahnung“ – tödlich getroffen wurden und ergo als „Kollateralschäden“ nicht mehr berichtsfähig waren.
Bekannt jene Geschichten, denen zufolge man (oder zumindest der- oder diejenige, von dem/der berichtet wird) gewußt hätte, was gleich passieren würde. Dazu mein nicht blutsverwandter Onkel, der ein großer Bastler war (oder ist; ich weiß nichts mehr von ihm): „Da arbeitest du an etwas und weißt Sekundenbruchteile vorher, daß du dich jetzt in den Finger schneiden oder sonst eine Verletzung erfahren wirst – es ist nachgerade unheimlich.“
Wie solche „unwissenschaftlichen“ – auch unphilosophischen? – Berichte (wenn sie noch so literarisch sein mögen) einordnen in die Welt des Rationalen und Logischen, also des Überprüfbaren[3] und nicht Abergläubischen?[4]
Erlebbare Tatsache hingegen ist, daß jeder, der einen Gedanken denkt, einen Satz spricht oder – so wie eben jetzt hier – niederschreibt, dessen Ende bereits „vorausweiß“; sonst ergäbe das Gesprochene oder Geschriebene ja keinen Sinn, wären Sprache und Schrift gar nicht möglich.
Als einer, der seit Jahrzehnten über das Phänomen Zeit philosophiert und darüber ausgiebigst publiziert hat,[5] war die Lektüre von „Plus ultra“ und dort der Tod des Buchheim Herausforderung, dieses – literarisch aufgearbeitete – Phänomen des Vorausahnens oder gar -wissens philosophisch zu untersuchen. Und zwar als einer, dem Verletzungen beim Heimwerken und Vorauswissen von Tonfolgen ihm unbekannter Kompositionen (mit Ausnahme japanischer oder chinesischer Musikstücke etwa) laufend passieren …
Der erste – pragmatische – Zugang zu diesen Phänomenen wird wohl sein, daß man simpel aus Erfahrung weiß, was kommen wird – oder kann. Wer schneidet, hämmert und bohrt, weiß, wie gefährlich diese Tätigkeit ist – wenn man unvorsichtig oder -achtsam ist und dadurch abrutscht oder danebenschlägt. Eine solche Unachtsamkeit ist aber – auch darüber habe ich des langen und breiten philosophiert und publiziert – keine zufällige, denn: Zufälle gibt es keine. Alles muß so passieren, wie es geschieht – und das hat nichts mit „Vorsehung“[6] zu tun oder gar mit Fatalismus.[7]
Mit „Zufall“ bezeichnen wir ein Ereignis, dessen Eintreten wir kausal nicht erklären können. Damit ist alles gesagt, wenn wir wissen (oder definiert haben), daß Kausalität nur eine Methode ist, wie (Selbst-)Bewußtsein das Aufeinander von Ereignissen als deren Auseinander erklärt, soll heißen: Wir haben aus unserer Erfahrung gelernt (das tun allerdings auch Tiere), daß aus einer gewissen Aufeinanderfolge von Geschehnissen immer die gleichen (aber nie dieselben[8]) Resultate erfolgen. Daraus schließen wir: wenn–dann, also aus dem Vorangegangenen. Daß diese Erwartungshaltung (oder, beim Tier: Gewöhnung) sehr unersprießlich sein kann, zeigt das Beispiel des Russell´schen Huhns: Das vertraut der Hand, die es füttert, solange, bis dieselbe ihm den Hals umdreht.
In Philosophie und Wissenschaft wird dieses Vertrauen auf die Wiederholbarkeit von Ereignissen „Induktion“ genannt – und sie ist der Schwachpunkt per excellence in unserer Logik,[9] aber auch in unserem Handeln und Tun. Bloß, weil die Sonne jeden Tag aufgeht, heißt das noch lange nicht, daß sie eines Tages nicht mehr aufgehen wird. Die Wissenschaft (sowohl Physik als auch Astronomie) sagt uns, daß dieses Ereignis mit Sicherheit (also mit hundertprozentiger Wahrscheinlichkeit) dereinst (man spricht von 4 Milliarden Jahren in der Zukunft) nicht mehr der Fall sein wird.
Soviel zur Induktion.
Kausalität ist also „nur“ unsere Sicht der Dinge. In der Natur (was immer das nun wieder sein mag)[10] gibt es keine Kausalität – nur wissen das nicht alle, auch nicht alle Physiker, deren Naturgesetze auf der Kausalität beruhen. Die Gescheiten unter den Physikern wissen „natürlich“, daß „Natur“-Gesetze nicht in der Natur wirken, sondern nur in unseren Köpfen, mit denen wir unsere Interpretation von Natur dieser aufzuzwingen trachten: damit wir diese besser manipulieren können – durch Technik. Daß es freilich etwa alle 50 Jahre einen gravierenden Paradigmenwechsel[11] in der Physik (und somit auch im Weltbild) gibt, sei nur der Originalität wegen erwähnt … von wegen „ewiger Gültigkeit“ von Theorien.
Wenn Zufall also nur unsere (unvollkommene) Interpretation von akausalen Ereignisfolgen ist – was ist die Aufeinanderfolge von (allen) Ereignissen dann? Was ist die Alternative zu unserer Sicht von Zufall, „Vorsehung“ (dazu braucht man wohl einen „Gott“) und Fatalismus (wozu sich „Allah“ hervorragend eignet)?
„Notwendigkeit“ ist ein dafür sehr nützlicher Begriff. Das war aber jetzt ein Vorgriff, denn noch muß auf den (zu erwartenden) Einwand gegen unsere Definition von Zufall, nämlich den Zufallgenerator und den mathematischen Zufall eingegangen werden. Unter beiden versteht man Zahlenfolgen, die jeder Ordnung entbehren, und Ordnung bedeutet – salopp formuliert – nichts anderes als Wiederholung und daraus sich ergebend: Prognostizierbarkeit.
Nun kann man tatsächlich Maschinen (= Computer) konstruieren, die Zahlenfolgen kreieren, die jegliche Ordnung (also Wiederholungen von Zahlengruppen) ausschließen. Dazu ergeben sich allerdings gleich zwei Fragen: Ist bar jeder Ordnung nicht „auch“ Ordnung? Und zwar die vielleicht komplizierteste und komplexeste? Nämlich keine erkennbare Ordnung zu enthalten![12] Völlige Strukturlosigkeit[13] ist wohl die am schwersten zu erzielende Ordnung überhaupt! Und: Jeder Statistiker wird uns zustimmen, daß „im Unendlichen“ (und die Zahlenreihe ist Musterbeispiel für Endlosigkeit) jede Ordnung auftreten kann (und auch wird!), die man sich nur wünscht.[14] Und was wir so üblich als „Zufall“ bezeichnen, z. B. den Tod eines Menschen, das Eintreten eines Unfalles, die Zahl der Impakte auf einem Planeten oder Mond, die Entstehung von Sternen und ganzen Galaxien: Wir können alle diese Ereignisse – bei Vorhandensein von ausreichendem Datenmaterial (und das wird im Computerzeitalter immer umfangreicher und genauer) – sehr genau prognostizieren: Zwar nicht als Einzelereignis, das jetzt diesem Menschen, Planeten, Mond, Stern oder dieser Galaxie passiert, sondern als Wahrscheinlichkeit, die mit Sicherheit (!) – nein, nicht eintreten wird, sondern eintreten muß! Jeder Mensch muß sterben,[15] jedes radioaktive Element hat seine Halbwertszeit, die jeweilige Scheidungsrate innerhalb einer Population läßt sich auf die Kommastelle genau errechnen – und hält auch auf dieser, bis sich die sozialen Umstände ändern. Diese allerdings ändern sich stetig. Also ändert sich auch die Scheidungsrate – und zwar ebenso permanent … Alles ist im Fluß – und alles steht untereinander in Beziehung. Nichts ist zufällig!
Womit wir eine fundamentale Erkenntnis haben: Alles ist (zugleich) ein(e)s;[16] alles hängt – irgendwie – zusammen. Dieses Irgendwie zu enträtseln, sind die Naturwissenschaft (auch die Theologie) und die dualistische Philosophie angetreten. Nicht aber grübelt darüber der Monismus, da diesem die Einsicht, das Alles Ein(e)s sein muß und Ein(e)s nur als Alles, also als Vieles (als Menge von einzelnem) sein kann, gewiß und logisch[17] zwingend ist. Es bedarf keines „Irgendwie“ mehr: Es ist notwendig, daß es so ist. Es gibt bzw. existiert nichts in der Welt, das losgelöst von allem – also voneinander – ist. Alles ist in Verbindung, alles hängt notwendig zusammen: Alles agiert als Ein(e)s – und das Eine ist nur als Alles.[18]
Nicht kausal erfolgt alles Geschehen, sondern notwendig.
Kausalität ist (nur) die Methode unseres Bewußtseins, diese Notwendigkeit in den Griff kriegen zu wollen – oder die Welt zu interpretieren: in Form von Selbstbewußtsein, das sich als von seiner Um- bzw. Mitwelt unterschieden erlebt und dabei (in der Regel) vergißt, das jedes Wahrgenommene (inklusive sich selbst) eigenes Produkt ist.
Magie (Geisterglaube), Religion, Mystik aber auch Kunst sind Methoden, die diese Einheit von sich und Welt nicht „übersehen“ oder „vergessen“ und je auf ihre Art und Weise versuchen, diese Einheit auszudrücken bzw. sie mitzuteilen.[19] Naturwissenschaft hat sich hingegen der dualistischen Weltinterpretation verschrieben: des Beobachtens und Bewertens durch einen Beobachter und setzt dabei alleine